„Es gibt drei Hügel, von denen das Abendland seinen Ausgang genommen hat: Golgatha, die Akropolis in Athen, das Capitol in Rom. Aus allen ist das Abendland geistig gewirkt, und man darf alle drei, man muss sie als Einheit sehen.“1
Diesen Satz formulierte Theodor Heuss, der erste Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland, in einer 1950 vorgetragenen Rede. Die drei Säulen unserer westlichen Zivilisation seien also der Glaube an den nahe Jerusalem gekreuzigten und auferstandenen Christus, die philosophischen Traditionen des antiken Griechenlands und die Rechtsstaatsprinzipien des alten Roms. Letztere existierten bereits, als Jesus von Nazareth wirkte, der uns in den vier Evangelien des Neuen Testamentes präsentiert wird.
Doch warum setzte sich der Glaube an einen zu Tode gemarterten und dann – nach dem Zeugnis der Evangelien – auferstandenen Rabbi in der Antike durch, sodass der alte Götterglaube für viele antike Zeitgenossen an Atrraktivität verlor und sie zum Christentum wechselten? Dass diese Frage nicht trivial ist, bezeugt die Tatsache, dass es für Menschen sehr unangenehme Auswirkungen haben konnte, den christlichen Glauben anzunehmen: Neben dem Bruch mit der eigenen Vergangenheit und der Entfremdung der eigenen Familie, die ja nun aus christlicher Sicht Götzendiener waren, konnte es zu Anfeindungen und Verfolgungen gebenüber Christen kommen.
Ich möchte mich bei der Erläuterung auf historische – und explizit nicht auf theologische – Überlegungen stützen. Darüber hinaus beschränke ich mich auf die Ausbreitung des Christentums bis Kaiser Konstantin, der schließlich den christlichen Glauben institutionell verankern ließ und somit politisch machte. Wichtig zu betonen ist auch, dass die nun im Folgenden einzeln genannten Punkte nicht immer ausschließlich für das Christentum zutreffen – z.B. gab es auch bei den Römern Sozialdiakonie -, vielmehr sollte man sie als ein Ganzes betrachten, dass das Christentum für viele Menschen attraktiv machte.
1. Persönlicher Eindruck von Christen auf Nichtchristen
Manche Christen machten Eindruck. Ob es nun solche waren, die Wunder taten, oder solche, die sich unter grausamsten Verhören zu Jesus Christus bekannten, oder andere, die durch ihren teils radikalen, asketischen (dem Materialismus entsagenden) Lebenswandel auffielen: Sie alle erzeugten Aufmerksamkeit und riefen entweder Skepsis, Verwunderung oder Faszination hervor.
So berichtet etwa Hieronymus über den Asketen Hilarion, wie er einem christlichen Rennstallbesitzer durch die Besprengung seiner Pferde mit Wasser aus seinem Trinkbecher half, ein Rennen im Zirkus von Gaza gegen einen heidnischen Konkurrenten zu gewinnen. Die begeisterten Zuschauer deuteten den Vorgang religiös und wandten sich dem Christentum zu.
Der christliche Apologet Justin, der ursprünglich dem Platonismus anhing, erklärt in der Mitte des zweiten Jahrhunderts, wie sehr ihn die Tapferkeit der Christen im Angesicht des Martyriums beeindruckte (Einen Überblick über die Christenverfolgungen im Römischen Reich gibt es hier). Auch das trug dazu bei, dass er sich schließlich dem Christentum zuwandte.
2. Einfache Lehre
Die philosophischen Diskurse in der Antike waren den Gelehrten vorbehalten, die es sich leisten konnten, über die Götter und die Welt nachzudenken, anstatt einer geregelten Arbeit nachzugehen. Die Gedankengebäude der elitären Zirkel waren den einfachen Menschen auch zumeist intellektuell nicht zugänglich, wenn sie mit ihnen in Berührung kamen.
In Bezug auf die Lehre des Christentums sah dies schon anders aus. Dies wird auch durch die Polemiken von Lukian oder Celsus deutlich, die herausstellen, dass christliche Lehre nicht logisch begründet werden muss, sondern dass ihre Dogmen lediglich vom Glauben der Christen abhängen. Das sorgt aber dafür, dass deutlich mehr Menschen Zugang haben, weil die christliche Lehre von der Erlösung generell einfacher zu verstehen ist. Das schaffte also schonmal die notwendigen Voraussetzungen, um sich für (oder gegen) das Christentum zu entscheiden.
3. Sinngebung: Antworten auf existenzielle Fragen
Auch in der Antike gab es natürlich existenzielle Fragen nach und Ängste vor Unheil, Naturkatastrophen, Krankheiten und dem Tod. Fast immer wurde hinter diesen Dingen das Wirken höherer Mächte gesehen, also von Göttern, Dämonen oder dem Schicksal. Das Gefühl, diesen Dingen ausgesetzt zu sein, trieb die antiken Menschen in die Bewältigung dieser Angelegenheiten. Diese Bewältigung kann man in zwei Kategorien einteilen, die nicht immer trennscharf unterscheidbar sein müsssen.
Zum einen gab es die Möglichkeit, sich mit Riten und Opfern an eben jene Mächte zu wenden. Durch eine nach genauen Vorgaben durchgeführte Kulthandlung sollte die entsprechende Macht angesprochen und zum Wohlwollen aufgefordert werden. Das Prinzip dahinter funktioniert wie ein Vertrag: „do ut des“ („Ich gebe, damit du gibst“). Die Herzenshaltung hinter dieser Handlung war nicht entscheidend, es kam auf die korrekt durchgeführte Kulthandlung an.
Die andere Methode war die der Philosophen: durch Nachdenken Einsicht in die Dinge zu bekommen, die einen umtreiben. Unglück, Krankheiten oder dem Tod konnten also verhindert oder gemildert werden, indem man versuchte, diese Dinge geistig zu durchdringen, um ihnen so die unheilvolle Macht zu nehmen. Auch die Götter, Dämonen oder das Schicksal sollten verstanden und ihnen somit die unheilvolle Wirkung entzogen werden. Jedoch war dieser komplizierte Weg den meisten Menschen nicht zugänglich.
Aus diesem Grund hatten die sogenannten Mysterienkulte vollen Erfolg. Diese versprachen eine nahe Gemeinschaft mit einem Gott durch gemeinschaftliche Riten. In diesen wurden die gesellschaftlichen Unterschiede aufgehoben. Kultmahle sollten die Gemeinschaft stärken und das sinnhafte Erleben fördern, wobei die Identifizierung des eigenen Schicksals mit dem des Gottes sehr zentral war. Das bedeutete zuallererst die Erhebung in die göttliche Sphäre, sodass einem das ewige Leben nach dem Tod zugesichert wurde.

Das Christentum ging aber nochmal weiter als die Mysterienkulte. Es gibt einen Gott, der die Menschen liebt, und zwar so sehr, dass er sich ihnen zuwendet, indem er seinen Sohn in die Welt sandte. Und das nicht in ungewisser, längst vergangener Vorzeit, sondern ziemlich exakt datierbar und lokalisierbar. Der selbstlose Opfertod Jesu musste einen antiken Menschen fasziniert haben, weil es für ihn Versöhnung mit Gott nur durch Blut geben konnte. Das sprach vor allem Menschen aus niedrigeren Schichten an, für die diese sich erbarmende Liebe Gottes genauso galt wie für alle anderen. Die christliche Botschaft stellte den Menschen also in einen übergeordneten Heils- und Sinnzusammenhang, der ihm persönlichen Wert und dem Leben Sinnhaftigkeit verlieh. Selbst das Gericht Gottes musste für einen antiken Menschen, der nur die Willkür der Götter kannte, als ordnung- und gerechtigkeitsschaffend aufgefasst werden.
4. Vergebung individueller Schuld
Dieser liebende Gott wendet sich nach der christlichen Theologie den Menschen zu, um ihnen ihre individuelle Schuld zu vergeben und sie dann in die Gemeinschaft mit ihm aufzunehmen. Auch das war für einen antiken Zeitgenossen völlig neu. Der Bischof Cyprian von Karthago schildert anschaulich, wie er durch seine Taufe die Sündenvergebung spürte und sich danach wie ein neuer Mensch fühlte. Die kraftvollen Zeremonien unterstützten noch das Erlebnis des Gläubigen, der durch seine Bekehrung eine Hoffnung auf das ewige Leben bekam.
5. Attraktivität christlicher Theologie auch für heidnische Philosophen
Auch wenn es zahlreiche Kritikpunkte und Polemiken vonseiten heidnischer Intellektueller gab, konnte die christliche Theologie – in der Antike noch Philosophie genannt – auch eine gewisse Anziehungskraft für tiefsinnige Denker haben. Aus kaiserzeitlicher, platonischer Sicht z.B. benötigen die Menschen keine Sündenvergebung, da die Welt aus ihrer Sicht in einer tadellosen Ordnung steht. Allerdings konnten die (neu)platonischen Philosophen nicht dem Problem Herr werden, woher das Böse stammt. Hier bot sich in der christlichen Theologie eine Möglichkeit, das Böse als einen individuellen Drang, sich von Gott zu entfernen, zu verstehen.
6. Klare ethische Maßstäbe
In der Antike gab es komplizierte Diskussionen über das richtige, ethische Verhalten. Das Christentum setzte klare Maßstäbe, die oftmals auch Eindruck machten.
So gab es unterschiedliche Meinungen über das biologische Wesen und den juristischen Status eines Embryos. Dem römischen Vorsteher einer Familie, dem pater familias, stand so das Recht zu, seine neugeborenen Kinder, vor allem Mädchen, nicht als familienzugehörig anzuerkennen und sie auszusetzen, was den sicheren Tod oder den Missbrauch durch Zuhälter bedeutete. Die christliche Theologie positionierte sich klar für die Würde des Kindes im Mutterleib aufgrund seiner Geschöpflichkeit. Makrina, die Schwester der Kirchenväter Basilius von Cäsarea und Gregor von Nyssa, setzte sich für ausgesetzte Kleinkinder ein und versorgte sie. Sie ist ein Beispiel aufopferungsvolle Hingabe, basierend auf einer klaren ethischen Maxime.

Ein anderes berühmtes Beispiel ist die Ermahnung von Ambrosius, Bischof von Mailand, an den christlichen Kaiser Theodosius. Letzterer hatte nach einem Aufruhr in Thessaloniki tausende Menschen umbringen lassen. Ambrosius ließ dem Kaiser einen Brief zukommen, in dem er ihm klarmachte, dass er für sein Fehlverhalten vor Gott Buße tun müsse, andernfalls müsse er mit einem Ausschluss aus der Kirche rechnen. Theodosius ließ sich überzeugen und bereute seine Sünde öffentlich.
7. Sozialdiakonie
Die Christen setzten sich für Witwen und Waisen, Arme und Kranke ein. Eusebius zufolge versorgte die römische Gemeinde in der Mitte des dritten Jahrhunderts etwa 1500 Witwen und andere Hilfsbedürftige, während die Gemeinde in Antiochia nach Chrysostomus im vierten Jahrhundert dreitausend Witwen und nicht verheirateter Frauen versorgte, ausgenommen weiterer Hilfsbedürftiger. Auch wenn es einige Beispiele heidnischer Fürsorge für andere Menschen gibt, stellte die christliche Ethik der hingebungsvollen Nächstenliebe ein Novum dar. So beklagte der heidnische Kaiser Julian, der in den 360er Jahren die alten Götter wiederbeleben wollte, dass die Christen ihren Erfolg durch ihre erbarmende Fürsorge und ihr sozialdiakonisches Netz hätten, während die Heiden beidem entbehren würden.
Natürlich kann man nicht behaupten, dass es in der Antike von heidnischer Seite nur kalte Ignoranz und von christlicher Seite nur warmherzige Liebe gegenüber Hilfsbedürftigen gab. Dennoch wird man nicht leugnen können, dass mit dem Christentum der maßgebliche Impuls für eine selbstlose Hingabe für den Nächsten in die antike Welt hineinkam.
8. Einheitsgefühl
Man kann diesen Punkt gewissermaßen als Zusammenfassung der vorher genannten Punkte verstehen. Die christliche Kirche trat als Gemeinschaft mit einer (zumeist) gemeinsamen Lehre auf, deren Mitglieder an einen Gott glaubten, der ihnen Sinn und Sündenvergebung zusprach. Letztere benötigte der Kommunalpolitiker genauso wie der Sklave, die nebeneinander im Gottesdienst saßen und deren gesellschaftlicher Status in der Gemeinde keinen Unterschied mehr machte. Was zu tun war, war klar definiert und man konnte sich sicher sein, in Notlagen nicht im Stich gelassen zu werden. All diese Faktoren trugen dazu bei, ein Großes Ganzes zu schaffen, in dem sich das Individuum einfinden konnte.
Fazit
All die genannten Faktoren machten in ihrer Gesamtheit die Originalität des Christentums aus. Der These, dass das Christentum nur ein orientalischer Mysterienkult unter vielen war und somit Zulauf generierte, wie einige behaupten, erteilt der Althistoriker Paul Veyne eine Abfuhr. Vielmehr war das Christentum radikal anders:
„Die jeden Vergleich sprengende Originalität des Christentums, das nichts anderem ähnelte […], sollte uns davor bewahren, seinen Erfolg durch das «Milieu», die «Erwartung» einer ganzen «Gesellschaft», die verbreitete «neue Religiosität», die «Ängste des Zeitalters» oder das reichsweite Vordringen der famosen «orientalischen Religionen» (die gerne als Ausdruck dieser Erwartungen und als Wegbereiter des Christentums gedeutet werden) zu erklären. Das Gegenteil ist wahr. Diese orientalischen Religionen waren nichts als gewöhnliche pagane Kulte, die ein wenig in die Farben, Klänge und Düfte des Orients eingetaucht waren. Das Christentum war erfolgreich durch seine radikale Andersartigkeit, durch seine Originalität.“2
- Vgl. PRO: 70 Jahre Bundestag. Die drei Hügel des Abendlandes, oder: Wie christlich ist die Demokratie?, 07.09.2019. Aufgerufen unter: https://www.pro-medienmagazin.de/die-drei-huegel-des-abendlandes-oder-wie-christlich-ist-die-demokratie/ ↩︎
- Vgl. Veyne, S.39. ↩︎
Literatur:
Kehl, Alois: Antike Volksfrömmigkeit und das Christentum, in: Martin, Jochen; Quint, Barbara (Hg.): Christenum und antike Gesellschaft (Wege der Forschung, Bd. 649), Darmstadt 1990, S.103-142.
Markschieß, Christoph: Das antike Christentum. Frömmigkeit, Lebensformen, Institutionen. München 2016 (Hieraus sind die maßgeblichen Punkte entnommen).
Veyne, Paul: Als unsere Welt christlich wurde. Aufstieg einer Sekte zur Weltmacht. München 2008.