Das biblische Buch Ruth fasziniert. Auch wenn es nur vier Kapitel besitzt, erzählt es eine Geschichte voller Tragik, die sich letztlich aber zum Guten wendet. Die Schlichtheit, Treue und Integrität der Hauptpersonen inspiriert. Auch wenn sich der Hauptteil des Buches um eine Heirat dreht, ist die Geschichte keine Romanze, sondern dient als Teilstück eines großen erzählerischen Bogens, der die jüdische Sehnsucht nach einem gerechten und rechtschaffenen König beinhaltet. Dabei sehen sich die Charaktere immer eingebunden in das Handeln Gottes. Und zwar des Gottes, der die Seinen nicht verlässt und mit ihnen ans Ziel kommt, ganz persönlich und im großen Ganzen.
Schlüsselpersonen
Die Israelitin Noomi (Namensbedeutung „lieblich“) stammte aus dem kleinen Ort Bethlehem und war mit Elimelech („Mein Gott ist König“) verheiratet, mit dem sie zwei Söhne hatte: Machlon („Schwachheit“) und Kiljon („dahinwelkend“). Durch eine Hungersnot getrieben zogen sie nach Moab, wo sich die beiden jungen Männer Frauen nahmen: Ruth („Freundschaft“) und Orpa („Vollmähnige“ oder „Widerspenstige“). Nach dem Tod der drei Männer zog Ruth mit ihrer Schwiegermutter zurück nach Bethlehem, wo sie Boas („von scharfem Geist“) kennenlernte, einen Verwandten ihres verstorbenen Schwiegervaters, der für sie sorgte und sie heiratete.
Datierung und Verfasserschaft
Die Handlung spielt in der Richterzeit (Ruth 1,1), hebt sich in der Erzählung jedoch von den streckenweise sehr grausamen Schilderungen des Richterbuches erheblich ab. Zur Zeit der Richter wohnten die Israeliten schon in Teilen des Landes Kanaan, mussten sich jedoch immer wieder gegen Feinde zur Wehr setzen, was nicht zuletzt daran lag, dass sie Gottes Gebote missachteten. Statt eines institutionalisierten Königtums gab es das Amt des Richters, der von Gott in kritischen Zeiten berufen wurde, die Israeliten militärisch anführte und sie wieder zu Gott hinführen sollte.
Anhand des Stammbaums in Ruth 4,18-22 wird deutlich, dass Boas der Urgroßvater von David war, der wiederum in jungen Jahren vom alten Propheten Samuel (1.Samuel 12,2) zum König gesalbt wurde (1. Samuel 16,13). Somit war Boas‘ Sohn Obed, der Davids Großvater war, etwa in Samuels Alter. Das wiederum versetzt Boas und Ruth in die Generation vor Samuel. Schlussfolgernd kann man sagen, dass sich die Geschichte von Ruth ungefähr um 1100 v. Chr. zugetragen haben muss, gegen Ende der Richterzeit.
Die Autorschaft und Verfassungszeit des Buches sind umstritten. Sie reicht von der Annahme, dass der Prophet Samuel das Buch Ruth am Ende der Richterzeit verfasste, bis zur These, dass es erst nach dem Exil der Juden in Babylon entstanden sei (5./4. Jahrhundert v. Chr.). Die Tatsache, dass die in Ruth erwähnte Schuhzeremonie (Ruth 4,7) erklärt wird, lässt darauf schließen, dass mindestens einige Jahrzehnte verstrichen sein mussten, bevor das Buch aufgeschrieben wurde. Die sprachlichen Argumente für die Entstehungszeit nach dem babylonischen Exil sind nicht überzeugend, da der Schreibstil nicht zur nachexilischen Zeit, vielmehr zu einer früheren Zeit passt. Vielleicht entstand es also in der frühen Königszeit, als man die Geschichte der Vorfahren von König David erzählen wollte.
Inhaltliche Zusammenfassung und Erläuterungen
Das Buch Ruth besteht aus vier Kapiteln, anhand deren der Inhalt im Folgenden zusammengefasst werden soll. Außerdem möchte ich, wo es zum besseren Verständnis nötig ist, Hintergrundinformationen liefern.
1. Kapitel
Die Erzählung beginnt mit einer Notlage: Eine Hungersnot brach in Kanaan aus. Elimelech floh mit seiner Frau Noomi und seinen beiden Söhnen Machlon und Kiljon aus Bethlehem ins Ausland nach Moab, eine Region im Südosten des Toten Meeres. Moab hatte keinen guten Ruf bei den Israeliten. Die aus israelitischer Sicht skandalöse Liste der Ereignisse reichte von der inzestuösen Zeugung der Urahnen Moabs (1. Mose 19,30-38) über die durch den Moabiterkönig beauftragte Verfluchung der Israeliten (4. Mose 22-24) bis hin zur Verführung zum Götzendienst, der Gottes Strafgericht zur Folge hatte (4. Mose 25,9; 31,16).
Das hielt die beiden Söhne Noomis jedoch nicht davon ab, sich nach dem Tod ihres Vaters moabitische Frauen zu nehmen: Orpa und Ruth. Aus nicht genannten Gründen starben dann auch Machlon und Kiljon. Die Nachricht, dass Gott die Israeliten wieder mit Brot versorgt hatte, veranlasste Noomi, sich mit ihren beiden Schwiegertöchtern auf den Weg nach Hause zu machen. Auf dem Heimweg veranlasste Noomi die beiden, doch nach Moab zurückzukehren und sich dort Ehemänner zu suchen, da sie als alte Frau ihnen keine Zukunft bieten könnte. Orpa verabschiedete sich in Tränen, Ruth aber wich trotz der Überredungsversuche Noomis nicht von ihrer Seite:
„Dringe nicht in mich, dich zu verlassen, von dir weg umzukehren! Denn wohin du gehst, dahin will auch ich gehen, und wo du bleibst, da bleibe auch ich. Dein Volk ist mein Volk, und dein Gott ist mein Gott. Wo du stirbst, da will auch ich sterben, und dort will ich begraben werden. So soll mir der HERR tun und so hinzufügen – nur der Tod soll mich und dich scheiden.“ Ruth 1,16f
Das war ein sehr mutiger Schritt von Ruth, wenn auch vielleicht unbewusst. Gott hatte nämlich eigentlich vorgesehen, dass kein Moabiter jemals zu seiner Gemeinde gehören könne (5.Mose 23,4-7).
Als die beiden schließlich zum Beginn der Getreideernte in Bethlehem ankamen, wurde sie von den Frauen wiedererkannt. Noomi wollte aber statt ihres ursprünglichen Namens, der so viel wie „lieblich“ bedeutet, Mara, also „bitter“ genannt werden. Das begründete sie mit dem schweren Los, das Gott durch den Tod ihres Mannes und ihrer Söhne auf sie gebracht hatte.
2. Kapitel
In Bethlehem hatte Noomi einen frommen Verwandten mit Namen Boas, der ein wohlhabender Landwirt war. Ruth wollte bei einem Feld die während der Ernte heruntergefallenen Getreideähren aufsammeln und gelangte „zufällig“ an das Feld von Boas. Er wurde auf Ruth aufmerksam und erkundigte sich bei seinen Schnittern. Diese erzählten ihm von ihr und erklärten, dass sie fast ohne Pause den ganzen Tag lang Ähren aufgesammelt hatte. Boas war klar, dass Ruth aus ärmlichen Verhältnissen stammte, schließlich sah das Gesetz des Mose eine solche Getreidenachlese für arme Menschen vor (3.Mose 19,9f).

Boas ermutigte Ruth daraufhin, weiter bei ihm die Getreideähren aufzusammeln und stellte ihr sein Trinkwasser zur Verfügung. Auf die erstaunte Frage, warum er so großzügig zu ihr sei, antwortete er:
„Es ist mir alles genau berichtet worden, was du an deiner Schwiegermutter getan hast nach dem Tod deines Mannes, dass du deinen Vater und deine Mutter und das Land deiner Verwandtschaft verlassen hast und zu einem Volk gegangen bist, das du früher nicht kanntest. Der HERR vergelte dir dein Tun, und dein Lohn möge ein voller sein von dem HERRN, dem Gott Israels, zu dem du gekommen bist, um dich unter seinen Flügeln zu bergen!“ Ruth 2,11f
Er versorgte sie mit so viel Essen, wie sie benötigte, wies seine Arbeiter an, Ruth nicht zu belästigen und ihr absichtlich Ähren liegenzulassen.
Nachdem Ruth ihrer Schwiegermutter das viele Getreide, was sie aufsammeln konnte, gezeigt hatte, erzählte sie ihr von Boas und was er ihr Gutes getan hatte.
Noomi erklärte, dass Boas einer ihrer „Löser“ sei (Ruth 2,20). Im Falle der Verarmung einer Person und dem daran anschließenden Verkauf eines Grundstücks gestattete das mosaische Gesetz dem nächsten Verwandten ein Vorkaufsrecht, damit der Besitz in der Familie blieb (3.Mose 25,25). Im Falle einer Witwe musste diese geheiratet, versorgt und ein männlicher Nachkomme mit ihr gezeugt werden, der dann die Versorgung in die Hand nehmen konnte, da er der Erbe des verstorbenen Mannes wurde (Ruth 4,5f). In diesem Falle würde ein Sohn Ruths der Erbe von Elimelech werden.
Bis zum Ende der Getreideernte sammelte Ruth weiterhin bei Boas die Ähren auf.
3. Kapitel
Noomi riet ihrer Schwiegertochter, sich schick zu machen, um sich dann, wenn Boas schlafen gegangen sein sollte, an sein Fußende zu legen. Gesagt, getan. Um Mitternacht wachte Boas auf und erschrak. Ruth bat ihn, „den Saum deines Gewandes über deine Magd“ auszubreiten (Ruth 3,9), sie also zu heiraten. Boas willigte freudig ein, machte Ruth aber klar, dass er lediglich der zweitnächste Verwandte von Elimelech sei und abwarten müsse, was dieser vorhabe.
Ruth blieb bis zum nächsten Morgen liegen und machte sich vor Sonnenaufgang auf den Weg. Boas gab ihr noch Getreide mit, da sie nicht mit leeren Händen zu ihrer Schwiegermutter zurückkehren sollte. Nachdem Ruth Noomi alles erzählt hatte, ahnte sie schon, dass Boas alles daran setzen würde, Ruth zu heiraten.
4. Kapitel
Boas begab sich am nächsten Tag zum Stadttor, wo üblicherweise Verhandlungen stattfanden. Zehn Älteste der Stadt und der erste Löser, der näher mit Elimelech verwandt war, waren auch anwesend. Boas machte ihm das Angebot, ein Feldstück, das Noomi verkaufen wollte, zu erwerben. Das Angebot nahm der Mann an. Ihm war jedoch noch nicht klar, dass er dann auch Ruth hätte heiraten müssen. Boas klärte ihn darüber auf und es war klar, dass damit ein potenzieller männlicher Sohn der juristische Nachfolger des verstorbenen Elimelech werden würde. Das hätte dem ersten Löser jedoch eine zu große Bürde bedeutet, sodass er schließlich ablehnte und Boas die Verantwortung übertrug. Als Zeichen, auf sein Recht zu verzichten, überließ der Löser ihm einen Schuh.
Boas wurde anschließend gerühmt und gesegnet von den anwesenden Menschen. Er heiratete Ruth und sie wurde mit einem Sohn schwanger. Die Frauen des Ortes priesen Gott und dankten ihm:
„Gepriesen sei der HERR, der es dir heute nicht an einem Löser hat fehlen lassen! Sein Name werde gerühmt in Israel! Und er wird dir ein Erquicker der Seele sein und ein Versorger deines Alters! Denn deine Schwiegertochter, die dich liebt, hat ihn geboren, sie, die dir mehr wert ist als sieben Söhne.“ Ruth 4,15
Die Nachbarinnen gaben dem Kind den Namen Obed und sagten: „Ein Sohn ist der Noomi geboren!“ (Ruth 4,17). Somit wurde Obed der Erbe des verstorbenen Elimelech.
Am Ende des Kapitels wird noch ein kurzer Stammbaum aufgelistet, der Obed als Vater von Isai ausweist, der wiederum der Vater von David war, der später König werden sollte.
Theologie
Gottesnamen
Achtzehnmal kommt der Gottesname „Jahwe“ im Text vor, der den Israeliten vor dem Auszug der Israeliten aus Ägypten offenbart worden war. Jahwe war es, der sie auf spektakuläre Weise aus der Sklaverei gerettet hatte und sie in das verheißene Land Kanaan gebracht hatte. In 1,20f gebraucht Noomi zum einzigen Mal im Buch die Bezeichnung „(El) Schaddai“, als sie erschöpft und resigniert nach Bethlehem zurückkehrt. Durch die Meidung des vertrauten Gottesnamens drückte sie eine gewisse Entfremdung aus, ohne jedoch gänzlich ihr Vertrauen aufzugeben. Am Ende sollte dieses Vertrauen belohnt werden.
Barmherzigkeit
Die Barmherzigkeit (hebräisch „chesed“) spielt eine große Rolle in der Ruth-Erzählung (Ruth 1,8; 2,20; 3,10). Dabei ist diese Barmherzigkeit eine Charaktereigenschaft Gottes (2.Mose 15,13; 5.Mose 7,9), sie geht also über das menschliche Maß der Zuwendung hinaus. Auch wenn Boas und Noomi Barmherzigkeit übten, wird nur Ruth genau eine solche Barmherzigkeit attestiert – durch Boas (Ruth 3,10). Die Barmherzigkeit und Liebe, die Ruth von Noomi und in letzter Instanz durch Gott selbst empfangen hat, war sie auch fähig weiterzugeben bzw. in ihrem Leben zu verwirklichen, was sich explizit am treuen Umgang mit Noomi ausdrückte.
Erlösung
Boas als Löser übte natürlich auch eine solche Barmherzigkeit. Das hebräische Wort für erlösen („ga’al“) fand im alten Israel öfters Verwendung, da jeder Verwandte, der einem Familienmitglied half, Besitz oder Freiheit zurückzugewinnen, genau das tat: (er)lösen. Dazu gehörte auch, durch Heirat einer kinderlosen Witwe ihr die Versorgung zu sichern. Somit wirft das Buch Ruth in erster Linie ein Schlaglicht auf die rechtliche Praxis im Alten Israel, dahinter steht jedoch die Vorstellung, dass Gott derjenige ist, der ursprünglich die Erlösung durchführt, sein Volk rettet und befreit (z.B. 2.Mose 15,13; Psalm 77,16).
Fazit und Ausblick
Das Buch Ruth schließt in den letzten vier Versen mit einem kleinen Stammbaum, der aufzeigt, dass König David von Boas und der Moabiterin Ruth abstammt. Der Evangelist Lukas führt ein gutes Jahrtausend den Stammbaum weiter bis hin zu Jesus Christus (Lukas 3,32), der nach dem neutestamentlichen Zeugnis durch sein Sterben und seine Auferstehung die Erlösung der Menschen bewirkt hat. Aus der achtbaren Lösung von Ruth durch Boas ist eine unendlich viel größere Erlösung entstanden mit überragender Bedeutung.
Die Moabiterin Ruth, die im alten Israel sicherlich mit Vorurteilen konfrontiert war, stellte sich mutig den schwierigen Gegebenheiten. Sie vertraute wie Noomi dem Gott Israels und ließ sich von ihm leiten. Ob sie ahnte, dass sie als verarmte, ausländische Frau ein wichtiges Puzzleteil in Gottes Heilsplan spielen sollte, darf man bezweifeln. Aber dass es sich lohnt, im Vertrauen auf Gott zu leben und weiterzumachen, auch wenn man die Folgen des eigenen Handelns nicht absehen kann, ist sicherlich auch eine Lektion des Buches Ruths.
Literatur:
- Guthrie, Donald; Motyer, J. Alec (Hg.): Kommentar zur Bibel. AT und NT in einem Band. Witten 2008.
- Johnson, Kevin u.a. (Hg.): Sein Wort – Meine Welt. Die Studienbibel für das 21. Jahrhundert. Witten 2016.