Hatte Jesus Geschwister? Was zunächst wie eine Randfrage klingt, führt mitten hinein in große Themen: Sie berührt zentrale Bereiche der Theologie: das Verständnis von Maria, die Rolle der Familie Jesu und nicht zuletzt das Verhältnis von Bibel, kirchlicher Tradition und persönlicher Glaubenshaltung.
Dieser Artikel zeichnet die Diskussion nach – von den biblischen Grundlagen über die Deutungen in der frühen Kirche bis hin zu den Sichtweisen der Reformatoren.
1. Die biblischen Grundlagen – „Brüder“ und „Schwestern“ Jesu im Neuen Testament
Das Neue Testament nennt mehrfach „Brüder“ und „Schwestern“ Jesu. Besonders wichtig sind diese Stellen:
- Markus 6,3: „Ist das nicht der Zimmermann, der Sohn der Maria und der Bruder von Jakobus, Joses, Judas und Simon? Sind nicht auch seine Schwestern hier bei uns?“
- Matthäus 13,55-56: Fast wortgleich mit Markus.
- Johannes 7,5: „Denn auch seine Brüder glaubten nicht an ihn.“
- Matthäus 12,46-50: Jesu Mutter und Brüder suchen ihn, doch Jesus erklärt: „Wer den Willen meines Vaters tut, der ist mein Bruder und meine Schwester und meine Mutter.“
- Johannes 2,12: Nach der Hochzeit zu Kana heißt es: „Er zog hinab nach Kapernaum, er, seine Mutter, seine Brüder und seine Jünger.“
- Markus 3,31-35: Wieder wird berichtet, dass Jesu Mutter und Brüder ihn suchen; Jesus nutzt die Gelegenheit, um geistliche Verwandtschaft höher zu stellen.
- Apostelgeschichte 1,14: Nach Jesu Himmelfahrt heißt es: „Alle verharrten einmütig im Gebet, zusammen mit den Frauen, mit Maria, der Mutter Jesu, und seinen Brüdern.“
- Galater 1,19: Paulus berichtet, er habe „keinen der anderen Apostel gesehen außer Jakobus, den Bruder des Herrn“.
- 1. Korinther 9,5: Paulus unterscheidet zwischen den Aposteln, den „Brüdern des Herrn“ und Kephas (Petrus): „Haben wir nicht das Recht, eine gläubige Frau mit uns zu führen, wie auch die anderen Apostel und die Brüder des Herrn und Kephas?“
Die Namen der Brüder Jesu werden also explizit genannt: Jakobus, Joses (Josef), Simon und Judas. Dazu kommen anonyme Schwestern.
Die zentrale sprachliche Frage dreht sich um das griechische Wort ἀδελφοί (adelphoi), das „Brüder“ bedeutet. Zwar kann es im weiten Sinn auch „Verwandte“ oder „Glaubensbrüder“ meinen, doch im Alltag bezeichnet es meist leibliche Geschwister.
2. Die Auslegung der „Geschwister Jesu“ in der frühen Kirche
Früheste Überlieferungen (2 und frühes 3. Jahrhundert)
Bereits im 2. Jahrhundert begannen Christen, die Geschwister Jesu unterschiedlich zu deuten:
- Protoevangelium des Jakobus (ca. 150 n. Chr.):
Dieser frühchristliche Text schildert Josef als alten Witwer mit bereits vorhandenen Kindern aus einer früheren Ehe. Maria bleibt darin jungfräulich vor, während und nach der Geburt Jesu. Jesu „Brüder“ wären somit Stiefbrüder. - Papias von Hierapolis (frühes 2. Jh., überliefert durch spätere Notiz, Echtheit ist zweifelhaft1):
Ein umstrittenes Fragment beschreibt mehrere „Marias“ in den Evangelien und erklärt die Brüder Jesu als Cousins, also Kinder der „anderen Maria“ (verheiratet mit Kleopas bzw. Alphäus), einer nahen Verwandten Marias, der Mutter Jesu. - Tertullian (ca. 155–220 n. Chr.):
Tertullian betont in seiner Schrift Über das Fleisch Christi die reale Menschwerdung Jesu.- In Kapitel 7 unterstreicht er ausdrücklich die historische Existenz von Jesu Mutter und Brüdern:
„Erstens hätte ihn niemals jemand davon benachrichtigt, seine Mutter und seine Brüder stünden draußen, der nicht gewiss wusste, dass er eine Mutter und Brüder habe.“
(De carne Christi 7, BKV)
Dabei spricht er von „Mutter und Brüdern“ als realen, bekannten Personen. Ob es sich dabei jedoch um leibliche Geschwister, Stiefgeschwister oder entfernte Verwandte handelt, behandelt er nicht unmissverständlich. - In Kapitel 23 wendet er sich gegen die Lehre der „Jungfräulichkeit in der Geburt“ und betont, dass Maria durch den Geburtsvorgang selbst ihre Jungfräulichkeit verloren habe, durch „Öffnung des Körpers“:
„Wer geboren hat, hat geboren, und wenn die Jungfrau empfangen hat, so ist sie durch ihr Gebären zu einer Verehelichten geworden.“
(De carne Christi 23, BKV)
Dabei versteht Tertullian „Jungfräulichkeit“ rein körperlich, auf den Geburtsvorgang bezogen, ohne ausdrücklich von späteren Kindern Marias zu sprechen. Seine Argumentation lässt daher offen, ob er mit weiteren leiblichen Kindern rechnete, zeigt jedoch dass die spätere Lehre der „immerwährenden Jungfräulichkeit“ zu seiner Zeit noch nicht allgemein vertreten war.
- In Kapitel 7 unterstreicht er ausdrücklich die historische Existenz von Jesu Mutter und Brüdern:
Ab dem 4. Jahrhundert: Der große Streitfall Helvidius vs. Hieronymus
Die entscheidende Diskussion kam um das Jahr 383 in Rom auf:
- Helvidius:
Er argumentierte, dass die neutestamentlichen „Brüder“ und „Schwestern“ Jesu tatsächliche Kinder von Maria und Josef seien. Er berief sich auf den Wortsinn der Bibel, besonders Matthäus 1:25 („er erkannte sie nicht, bis sie ihren Sohn gebar“) und die Bezeichnung „Erstgeborener“. Helvidius sah in der Ehe keinen Makel und wandte sich gegen die Überhöhung der Jungfräulichkeit. - Hieronymus:
Der berühmte Kirchenvater antwortete in seiner Schrift De perpetua virginitate Mariae adversus Helvidium (Über die immerwährende Jungfräulichkeit Mariens gegen Helvidius). Er vertrat eine komplexe Auslegung:- Die „Brüder“ Jesu seien entweder Stiefbrüder (Söhne Josefs aus einer früheren Ehe) oder Cousins (Kinder von Marias Verwandten).
- Der Ausdruck „bis“ in Mt 1:25 müsse nicht zwingend bedeuten, dass nach Jesu Geburt Geschlechtsverkehr stattfand (vergleiche 2 Sam 6,23).
- „Erstgeborener“ sei ein juristischer Begriff, der auch für Einzelkinder galt.
- Er verband seine Auslegung mit einer klaren Aufwertung der Jungfräulichkeit über die Ehe.
Dieser Streit war mehr als ein rein exegetisches Problem. Es ging um die Frage, ob Askese und Jungfräulichkeit das höchste christliche Ideal seien. Im asketisch geprägten Umfeld Roms setzte sich Hieronymus durch, Helvidius’ Werk wurde nicht überliefert.
Folge:
Seitdem wurde die Lehre von Marias „immerwährender Jungfräulichkeit“ zur Mehrheitsposition der Kirche. Später wurde sie auf Konzilien bestätigt (z. B. Konzil von Ephesus 431). Helvidius und seine Nachfolger galten als Häretiker (Antidicomarianiten).
3. Die Reformation und die Brüderfrage
Die Reformatoren im 16. Jahrhundert bewerteten die Frage unterschiedlich und doch ähnlich.
Martin Luther:
Luther hielt klar und konsequent an der Lehre von Marias immerwährender Jungfräulichkeit fest. Das zieht sich durch seine Bekenntnisschriften, etwa die Schmalkaldischen Artikel (1537), wo er sie als „reine, heilige Jungfrau“ bezeichnet. Auch in seinen Predigten, etwa über das Johannesevangelium (1539), sagt er ausdrücklich: Maria blieb auch nach Jesu Geburt Jungfrau.
Was die „Brüder“ Jesu betrifft, lässt Luther keinen Zweifel: Sie sind keine leiblichen Geschwister, sondern Vettern oder Verwandte. Teilweise deutet er sie auch als Kinder Josefs aus einer früheren Ehe. Für Luther war die Sache klar – er weist jede gegenteilige Deutung ausdrücklich zurück.
Johannes Calvin:
Calvin war hier deutlich vorsichtiger. Er lehnt es ab, auf Traditionen zu bauen, hält sich aber auch mit eindeutigen Aussagen zur immerwährenden Jungfräulichkeit zurück. In seinen Bibelkommentaren kritisiert er Helvidius, der Maria weitere Kinder zuschrieb, scharf und nennt dessen Sichtweise „große Unwissenheit“. Auch Calvin deutet die „Brüder“ Jesu als Verwandte. Allerdings erklärt er, dass man aus Bibelstellen wie Matthäus 1,25 keine sicheren Schlüsse über Marias Jungfräulichkeit nach Jesu Geburt ziehen könne. Er vermeidet es bewusst, die Frage abschließend zu bewerten – viele Zeitgenossen gingen dennoch davon aus, dass er die traditionelle Sicht zumindest stillschweigend teilte.
Huldrych Zwingli:
Zwingli hingegen bezog klar Stellung: Für ihn war Marias immerwährende Jungfräulichkeit ein unverzichtbarer Bestandteil des Glaubens. Bereits 1522 in seiner Zürcher Fastenpredigt sagte er deutlich, dass Maria „vor, während und nach der Geburt unversehrt“ blieb – wer das bestreite, zweifle an Gottes Allmacht. Auch in seiner Fidei Expositio (1536) betont er das ausdrücklich. In dieser Frage stand Zwingli ungewöhnlich nah bei der katholischen Lehre und verteidigte die semper virgo-Lehre mit großem Nachdruck.
4. Überblick über zentrale Argumente – Für und gegen leibliche Geschwister Jesu
Die Debatte um die Geschwister Jesu lässt sich nicht nur auf Bibelverse reduzieren, sondern umfasst sprachliche, historische und kulturelle Argumente. Hier ein Überblick über die wichtigsten Punkte, die in der Diskussion ins Feld geführt werden:
| Argumente für leibliche Geschwister Jesu | Argumente gegen leibliche Geschwister Jesu |
|---|---|
| Wörtliche Bedeutung von adelphos („aus demselben Schoß“); meist für leibliche Geschwister gebraucht; Brüder Jesu namentlich genannt. | Adelphos kann auch im erweiterten Sinn „Verwandter“ heißen; Kirchenväter deuten „Brüder“ als Cousins oder Stiefgeschwister. |
| Matthäus 1,25: „er erkannte sie nicht, bis …“ – im normalen Sprachgebrauch Hinweis auf späteres eheliches Zusammenleben. So auch der Begriff „Erstgeborener“ | „Bis“ (heos hou) muss keine spätere Veränderung bedeuten (vgl. 2 Sam 6,23); „Erstgeborener“ auch juristischer Titel für den Erstgeborenen, selbst ohne weitere Geschwister. |
| Keine Unterscheidung im NT zwischen „Brüdern Jesu“ und anderen Verwandten; Mutter und Brüder erscheinen oft gemeinsam, z. B. in Mk 3,31–35 oder Joh 2,12. | Johannes 19,26-27: Jesus vertraut Maria am Kreuz dem Jünger Johannes an – wäre bei vorhandenen Söhnen untypisch; oft als Indiz gegen leibliche Brüder gewertet. |
| Paulus (Gal 1,19; 1 Kor 9,5): „Brüder des Herrn“ als eigene, klar abgesetzte Gruppe neben Aposteln; Jakobus als „Bruder des Herrn“ hervorgehoben. | Frühkirchliche Tradition (ab 4. Jh.): Immerwährende Jungfräulichkeit Marias wurde theologisch gefestigt und verbreitet; große Wirkung auf spätere Auslegung. |
| Frühe Autoren (z. B. Tertullian, Helvidius): Lehn(t)en die Immerjungfrau-Lehre ab, gingen von realen Brüdern aus. | Kindheitserzählungen (Mt/Lk): Keine Erwähnung weiterer Kinder bei Flucht nach Ägypten oder im Tempel |
| Protoevangelium des Jakobus (2. Jh.): Josef als Witwer mit Söhnen aus erster Ehe (Stiefgeschwister-These); Papias-Fragment favorisiert Cousin-These. |
Haltung der Kirchen, Reformatoren und Forschung:
- Katholische und orthodoxe Kirchen halten bis heute an der Lehre von Marias „immerwährender Jungfräulichkeit“ fest und deuten die „Brüder Jesu“ als Stiefgeschwister oder Verwandte.
- Martin Luther und Huldrych Zwingli hielten weitgehend an der traditionellen Lehre der immerwährenden Jungfräulichkeit Marias fest – auch nach der Geburt Jesu.
- Johannes Calvin legt Wert auf den Wortlaut der Schrift, kritisiert Helvidius’ These von weiteren Kindern scharf, verzichtet aber auf ein dogmatisches Bekenntnis zur semper virgo.
- Ab dem 19. und 20. Jahrhundert wurde in der evangelischen Bibelauslegung meist die sogenannte Helvidianische Sicht vertreten, die von leiblichen Geschwistern Jesu ausgeht.
- Die historische Forschung weist darauf hin, dass schon die frühesten christlichen Quellen (ab 2. Jh.) unterschiedliche Deutungen kannten, was eine klare historische Entscheidung schwierig macht.
Die Frage „Hatte Jesus Geschwister?“ ist mehr als eine bloße Streitfrage über alte Texte. Dahinter stehen grundlegende Themen:
- Wie lese ich die Bibel – wörtlich oder im Licht kirchlicher Tradition?
- Welches Gewicht haben alte Überlieferungen im Vergleich zum klaren biblischen Wort?
- Und vor allem: Was bedeutet Familie aus christlicher Sicht?
Jesus selbst lenkt den Blick auf das Wesentliche:
„Wer ist meine Mutter, und wer sind meine Brüder? – Wer den Willen Gottes tut, der ist für mich Bruder und Schwester und Mutter.“
(Markus 3,33–35)
Entscheidend ist also nicht, wer Jesu Verwandte im irdischen Sinn waren, sondern ob wir heute zu seiner Familie gehören – durch den Glauben und das Leben im Willen Gottes.
Darauf kommt es an.
Fußnoten:
- Das sog. „Vier-Marien-Fragment“ wird oft Papias (frühes 2. Jh.) zugeschrieben, da es die Brüder Jesu als Cousins erklärt. Seine Echtheit ist jedoch stark umstritten: Das Fragment ist nur in einer mittelalterlichen Handschrift überliefert und wurde erst im 17. Jh. bekannt. Viele Forscher halten es für ein Werk eines gleichnamigen Lexikographen des Mittelalters, nicht des Papias von Hierapolis. Vgl. Richard Bauckham, Jude and the Relatives of Jesus in the Early Church, Edinburgh 1990, S. 13–17; Stephen C. Carlson, Papias of Hierapolis, Oxford 2021, S. 300–305. ↩︎
















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