Eine Prophetie?
„Endzeit ist nun da, wie cumaeisches Lied sie verkündet,
und von neum geboren wird der große Lauf der Zeiten.
Schon kehrt die Jungfrau zurück, kehrt wieder saturnische Herrschaft,
nun wird ein neues Geschlecht vom hohen Himmel entsandt.
Sei der Geburt nur des Knaben, mit dem das eiserne Geschlecht gleich
sich endet und auf der ganzen Welt sich ein goldenes erhebt,
günstig, keusche Lucina, schon jetzt regiert dein Apollo!“[1]
Diese Verse schrieb der römische Dichter Vergil im Herbst des Jahres 40 v.Chr., zwei Jahre nachdem Octavian (der spätere Augustus) und Marcus Antonius die Cäsarmörder bei Philippi besiegt hatten. Es war fraglich, wie es mit dem Römischen Staat weitergehen sollte: Die einstige Republik war in das Chaos der Bürgerkriege gestürzt. Die Macht lag inzwischen bei den Feldherren, die große Armeen hinter sich versammeln konnten: Octavian, Antonius und Sextus Pompeius.
In diese spannungsgeladene Situation schrieb Vergil diese Zeilen. Ohne auf alle Aspekte der Verse einzugehen, wird deutlich, dass es um Hoffnung für die Zukunft geht. Es soll ein neues, goldenes Zeitalter entstehen, das mit der Geburt eines Jungen verknüpft ist. Wen meinte Vergil damit? Ist das lediglich die Metapher für das neue Zeitalter, spricht er hier generalisierend von jedem neuen Kind oder meint er tatsächlich eine echte Person wie das zukünftige Kind von Octavian? Und was hat es mit der genannten Jungfrau auf sich?
Es ist kein Wunder, dass Christen späterer Generationen dieses Gedicht als eine Prophetie auf Jesus Christus hin interpretiert haben. Christus wurde auch von einer Jungfrau geboren und sollte ein neues, besseres Zeitalter einläuten, in dem es Frieden geben würde. Vergil schien die Weissagung des Propheten Jesajas zu bestätigen, der ankündigte:
„Denn ein Kind ist uns geboren, ein Sohn ist uns geschenkt; das wird der künftige Herrscher sein. Und dieser Name gehört zu ihm: wunderbarer Berater, kraftvoller Gott, Vater der Ewigkeit, Friedensfürst. Seine Macht reicht weit, und sein Frieden hört nicht auf.“ Jesaja 9,5f
Der Herrscherkult
Dabei war Vergil religiös in der polytheistischen Vorstellungswelt der römischen Antike verhaftet. Neben den alten Göttern sollte es mit dem Ableben Julius Cäsars auch in Rom en vogue werden, (verstorbene) Herrscher in eine göttliche Sphäre hineinzuheben, wenn nicht sogar selbst zu vergöttlichen.
Während des Machtgerangels mit Antonius präsentierte Octavian sich und seinen verstorbenen Adoptivvater Julius Cäsar durch die Leitung und Ausstattung von Festspielen, die der victoria Caesaris („Sieghaftigkeit Cäsars“) gewidmet waren. Als Profi der Inszenierung nutzte er einen Kometen, der während der Spiele am Himmel erschien, für seine Selbstdarstellung. In seiner (größtenteils verloren gegangenen) Autobiographie schreibt er:
„Genau zur Zeit meiner Spiele wurde sieben Tage lang am Himmel in Richtung Norden ein Haarstern (=Komet) gesichtet. Er ging um die elfte Tagesstunde auf und war in allen Ländern deutlich zu sehen. Das Volk glaubte, der Stern zeige an, dass die Seele Caesars unter die Mächte der unsterblichen Götter aufgenommen worden sei, weswegen dieses Attribut seinem Porträt, das ich später auf dem Forum weihte, hinzugefügt wurde.“[2]
Nun war Julius Cäsar nach dem Glauben der Menschen in die göttliche Sphäre aufgenommen worden. Damit war auch klar, dass Octavian als sein Adoptivsohn zum Sohn eines Gottes geworden war.
Indes leitete die Familie der Julier, zu der Julius Cäsar gehörte, ihren Stammbaum von Aeneas, dem sagenumwobenen Trojaflüchtling, her. Dieser wiederum soll der Sohn der Liebesgöttin Aphrodite gewesen sein. Somit stammte Julius Cäsar laut der Propaganda direkt von einer Göttin ab. Das wussten auch die Menschen der kleinasiatischen Stadt Ephesus, die ihm eine Statue aufstellen ließen, auf deren Sockel ihm göttliche Ehren zuteil wurden:
„Die Städte in der Provinz Asia sowie die Gemeinden und Stämme für Caius Iulius Caesar, […] der von Ares und Aphrodite abstammt, ein Gott, der erschienen ist, und Retter des gesamten Menschengeschlechts.“[3]
Durch solche Ehrungen wollten die Menschen in Ephesus Julius Cäsar ihre Loyalität bekunden, die aber gleichzeitig mit Erwartungen quasireligiöser Natur verbunden waren. Nicht umsonst bezeichnen sie ihn als „Retter“ (gr. sotér). In den Gebieten des hellenisierten (von der griechischen Kultur geprägten) Ostens des Römischen Reiches war diese göttliche Verehrung von Herrschern seit Alexander dem Großen in der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts v.Chr. bekannt, als dieser mit seinen Armeen die Perser besiegte. Der Herrscherkult sollte auch Einzug in den Westen des Reiches halten.
Augustus
Octavian trat in die Fußspuren seines Adoptivvaters Cäsar, nachdem er im Jahr 27 v.Chr. formal auf seine Macht verzichtet hatte. Vom Senat wurde er dafür mit Ehrungen überhäuft: sein offizieller Name hieß fortan Imperator Caesar Augustus. Während die erste Bezeichnung „Herrscher“ bedeutet, knüpft die zweite an seinen berühmten Adoptivvater an und die letzte bedeutet so etwas wie „der Erhabene“, was mit einer heiligen, sakralen Bedeutung verknüpft war.
Unter der Herrschaft des Augustus sollte Jesus von Nazareth das Licht der Welt erblicken. Seine Regierungszeit bzw. eine seiner Volkszählungen dient dem Evangelisten Lukas als Datierung für die Geburt Jesu. Man kennt die berühmten Zeilen:
„In dieser Zeit befahl der Kaiser Augustus, alle römischen Bürger seines Reiches zu zählen und in Listen einzutragen. […] Maria war schwanger. Während sie in Bethlehem waren, kam für sie die Zeit der Entbindung. Sie brachte ihr erstes Kind zur Welt. Es war ein Sohn. Sie wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe, weil kein Platz für sie im Gastzimmer war.“ Lukas 2,1-7
Der Herrscher Roms wird nichts von der Geburt Jesu mitbekommen haben, vielleicht hörte er vom Kindermord seines Klientelkönigs Herodes in Bethlehem, so wie es Flavius Josephus berichtet.
Augustus begann schon mit der Vergottung Cäsars um 39 v.Chr. sich selbst als gottnah zu inszenieren. Legenden von göttlichen Zeugungen gab es schon seit Alexander dem Großen, und so kursierten Erzählungen über Augustus und seine angebliche Zeugung durch den griechischen Gott Apoll. Dieser Gott war es, der ihm in der Schlacht bei Actium 31 v.Chr. den Sieg gegen seinen Kontrahenten Marcus Antonius gegeben hatte. Seit 30 v.Chr. trug Augustus den Lorbeerkranz, das Symbol Apolls, außerdem nahm die Statue des Apoll Augustus‘ Züge an. Auch andere Götter sorgten für seinen Schutz.
Das reichte Augustus aber nicht. Er sollte wie oben erwähnt seinen Namen im Jahr 27 v.Chr. bekommen, der bisher als Attribut für Götter diente:
„Augustus – dies verwies auf die Berufung der Götter durch das heilige Vorzeichen, das dem ersten (Romulus, M.K.) und jetzt auch dem zweiten Stadtgründer (Augustus, M.K.) seine Aufgabe gewießen hatte […]; Augustus – dies verband sich mit der Hoffnung auf die Auferstehung nach dem Tode; Augustus – dies kündete an, dass der Träger dieses Namens im Einklang mit der Geschichte Roms handelte; Augustus – dies versprach die Erfüllung des Auftrags, Rom zur Herrin der Welt zu machen.“[4]
Die Menschen in den Städten im Osten des Reiches erwarteten von Augustus nach seinem Triumph in der Schlacht von Actium und seinem Herrschaftsantritt 27 v.Chr. Sicherheit, eine gerechte Regentschaft und Frieden. Deshalb überschütteten sie ihn mit allerlei göttlichen Ehren. So richtete z.B. der Landtag (regionales Treffen für politische Angelegenheiten) in Kleinasien ihm ein Heiligtum ein und veranstaltete Festspiele zu seinen Ehren. Andere folgten dem Beispiel, so Cassius Dio: „Dieser Brauch [des Kaiserkultes] nahm dort seinen Anfang und verbreitete sich unter den späteren Kaisern nicht nur in den Griechisch sprechenden Provinzen, sondern auch in allen anderen, die den Römern untertan sind.“[5] Jeder Untertan des göttlichen Kaisers konnte ihm nun zur Ehre Tiere opfern oder Weihrauchkörner darbringen.

Viele ehrten ihn aufgrund seiner Leistung, nach dem Bürgerkrieg für eine lange Zeit Frieden, die Pax Romana, geschaffen zu haben und hegten somit ihre Heilserwartungen an ihn. Später sollte er aufgrund seiner wichtigen Taten für Rom den Ehrentitel Pater Patriae, also „Vater des Vaterlandes“ erhalten.
Die Huldigungen für Augustus nahmen auch im Westen zu, wenngleich Augustus im Westen vorerst – als Entgegenkommen für den Senat – ausdrücklich auf göttliche Verehrungen verzichtete. Es wurde zwar nicht mit Zwang ein einheitlicher Reichskult geschaffen, im Laufe der Zeit etablierte Rom aber auch in den westlichen Provinzen den Kaiserkult, mitgetragen von Literaten im Format eines Vergil, die dem Kaiser eine quasigöttliche Position bescheinigten.
Tiberius
Ein Gedicht Vergils, die Georgica, formuliert explizit, dass Augustus von den einfachen Menschen angebetet werden wird. Der Dichter trug dem neuen Herrscher sein Werk vor, nachdem dieser 29 v.Chr. von den Kämpfen im Osten des Reiches zurückgekommen war. Vielleicht war auch Tiberius anwesend, der Adoptivsohn des Augustus. Man darf auf jeden Fall annehmen, dass er das Werk Vergils kannte und von der Vorstellung beeinflusst wurde, dass sein Adoptivvater ein Gott sei. Und wenn sein Vater es war, warum nicht dann auch er selbst?
Tiberius wurde der Nachfolger von Augustus und regierte von 14 bis 37 n.Chr. Der Evangelist Lukas verwendet wieder die Regierungszeit des Kaisers, um den Beginn von Jesu öffentlichem Auftreten zu datieren, bei dem er von Johannes dem Täufer getauft wurde:
„Es war im 15. Regierungsjahr des Kaisers Tiberius; Pontius Pilatus war Statthalter von Judäa; Herodes ‹Antipas› regierte als Fürst in Galiläa, sein Bruder Philippus in Ituräa und Trachonitis, und Lysanias in Abilene. Hohe Priester waren Hannas und Kajafas. In dieser Zeit erhielt Johannes, der Sohn des Zacharias, draußen in der Wüste einen Auftrag von Gott.“ Lukas 3,1f.
Einen Monat nach dem Tod des Augustus erhielt auch Tiberius den Ehrentitel seines Adoptivvaters und hieß von da an Tiberius Caesar Augustus. Den Titel seines Vorgängers, Pater Patriae, lehnte er allerdings ab. Er wollte sich vielmehr als guten Hirten sehen. So antwortete er seinen Statthaltern, als diese ihm vorschlugen, Steuererhöhungen durchzuführen, „es sei die Aufgabe eines guten Hirten, die Schafe zu scheren, und nicht sie zu enthäuten.“[6]
In Bezug auf seine göttlichen Ehrungen verhielt sich Tiberius insgesamt zurückhaltender als Augustus, dennoch wurden ihm in allen Provinzen des Reiches göttliche Ehren zuteil und ihm wurde für seine Wohltaten gedankt. Er bewahrte weitestgehend den Frieden, der mit Augustus im Reich eingezogen war, stabilisierte die Provinzen durch Baumaßnahmen und förderte Menschen in Notlagen.

Als er am 16. März 37 n.Chr. starb, wurde er, anders als sein Vorgänger, nicht zum Gott erhoben. Dazu hätte es den Senat gebraucht, der aber keine Anfrage zur Vergöttlichung durch Caligula, Tiberius‘ Nachfolger erhielt. So wurde er zwar wie ein Gott in den Provinzen verehrt, blieb aber lediglich ein Sohn Gottes.
Jesus
Die wichtigsten Quellen über Jesus finden wir im Neuen Testament. Die Autoren dieser Schriften lebten selbstverständlich nicht in einer abgesonderten Blase, sondern waren natürlich vor allem mit ihrer jüdischen, aber auch griechischen und römischen Umwelt vertraut. So beherrschte beispielsweise Paulus sowohl griechisch, aramäisch als auch hebräisch und konnte mit stoischen und epikureischen Philosophen diskutieren (Apostelgeschichte 17,16-34).
Die Berichte und theologischen Aussagen über Jesus Christus sind somit vor dem Hintergrund der damaligen jüdischen, griechischen und römischen Umwelt zu sehen. Dass der römische Kaiser als Sohn Gottes bzw. Gott verehrt wurde, war den Schreibern des Neuen Testamentes auf jeden Fall klar, was nicht zuletzt an den verschiedenartigen Huldigungen lag, die der jüdische König Herodes der Große seinem Gönner Augustus entgegengebracht hatte. Das bedeutet nicht, dass die Aussagen in Bezug auf Jesus fiktional sind, es heißt aber, dass Jesus bzw. die Autoren an die ihnen bekannten Ereignisse und Weltanschauungen anknüpften (so wie es Grundlage der Polemischen Theologie im Alten Testament war).
Augustus kommt im Geburtsbericht von Lukas auch vor, allerdings nur zur Datierung und zur Erklärung, warum Maria und Josef nach Bethlehem reisen mussten. Der von den Menschen zum Gott erhobene Kaiser verkommt also zu einer Statistenrolle im göttlichen Heilsplan, da der versprochene Retter laut dem Propheten Micha (5,1) in Bethlehem geboren werden musste. Paulus nimmt eine göttliche Zeitrechnung in Anspruch, um das Kommen Jesu auf die Erde als einen übernatürlichen Akt zu erklären:
„Als dann aber die richtige Zeit herangekommen war, sandte Gott seinen Sohn. Er wurde von einer Frau geboren und unter das Gesetz gestellt. Er sollte die loskaufen, die unter der Herrschaft des Gesetzes standen, damit wir das Sohnesrecht bekämen.“ Galater 4,4f.
Jesus kommt also zur Befreiung der Menschen in die Welt. Diese waren bzw. sind gefangen im Gesetz Gottes, welches ihnen ihre Fehlerhaftigkeit und Erlösungsbedürftigkeit aufzeigt. Aber Jesu Auftrag war es, die Menschen zu befreien, sodass sie auch Kinder Gottes werden können, ohne jedoch direkt selber Götter zu sein.
Lukas, der an einen hohen, griechischsprachigen Empfänger schreibt, führt die Abstammung Jesu in einem Stammbaum direkt auf Adam, letztlich auf Gott zurück (Lukas 3,23-38). Nicht ohne Grund, da man in der heidnischen Antike viel auf lange zurückreichende Ahnenreihen gab. Matthäus verfolgt die Vorfahren Jesu für sein jüdisches Publikum immerhin bis Abraham, dem Stammvater der Israeliten (Matthäus 1,1-16). Beide führen König David in ihrer Liste der Vorfahren Jesu auf, dem Gott versprochen hatte, ihm ein ewiges Königtum zu geben (2.Samuel 7,13). Da David aus Bethlehem stammte (1.Samuel 16,4-13), schließt sich der Kreis mit der dortigen Geburt Jesu.
Jesu Predigten und Wunder faszinierten die Menschen. Er war fest im Leben seiner Umwelt verankert. Dennoch stellte Jesus heraus, dass es ihm nicht hauptsächlich um das diesseitige Leben ging, sondern um das jenseitige mit Gott, was aber mit einem glaubenden Herzen schon im Hier und Jetzt anfangen würde. So ermahnte Jesus einmal die Menschen, nachdem er sie durch eine wundersame Brotvermehrung satt gemacht hatte, nicht wegen vorübergehenden Dingen zu ihm zu kommen, sondern um Anteil an ewigen Dingen zu erhalten (Johannes 6,22-27). Ihm ging es also in erster Linie um die Beziehung der Menschen zu Gott (Johannes 14,6), das damit verknüpfte ewige Leben (Johannes 11,25f) und um das Reich Gottes (Matthäus 13).
Seine Mission war eine himmlische, nicht umsonst vergleicht er sich – wie Tiberius – mit einem guten Hirten, der sich um seine Schafe kümmern möchte, die der göttliche Vater – nicht der menschliche Vater Augustus, – ihm gegeben hat (Johannes 10). Und der Frieden, den Jesus verleihen möchte, ist konstant und nicht von dieser Welt (Johannes 14,27) – im Gegensatz zu der Pax Romana, die früher oder später ihr Ende nehmen musste. Dahlheim bringt es auf den Punkt:

„Der Graben, der den Prediger aus Galiläa von dem allmächtigen Herrn über Krieg und Frieden trennte, konnte nicht tiefer sein: hier der Sohn des großen Caesar im Zentrum des Imperiums, dort der Sohn eines Bauhandwerkers in einem Dorf am Ende der Welt. Der eine verkündete die Rückkehr des Goldenen Zeitalters, der andere das Kommen des Gottesreiches. Von Augustus forderten die Menschen ein besseres Leben nicht irgendwann und irgendwo, sondern hier und jetzt. Von Jesus erhofften sie die Vergebung ihrer Sünden und das Glück nicht hier und jetzt, sondern jenseits der Schwelle des Todes. Gemeinsam war ihnen die Verehrung ihrer Anhänger. Diese machten sie in dem festen Glauben zu Göttern, dass sie nur in dieser Rolle ihr Versprechen halten konnten, das menschliche Elend zu beenden.“[7]
Dass die meisten Menschen Jesus aber nicht als Gott anerkannten, wird durch eine Begebenheit bei Cäsarea Philippi deutlich, als Jesus seine Jünger fragte, für wen ihn die Leute halten. Manche hielten ihn für Johannes den Täufer, andere für einen der jüdischen Propheten. Als Jesus dann seine Jünger fragte, für wen sie ihn halten würde, antwortete Petrus prompt: „Du bist der Messias, der Sohn des lebendigen Gottes“ (Matthäus 16,16).
Während der meisten Zeit seines öffentlichen Auftretens war Jesus nicht direkt mit der römischen Politik konfrontiert. In einer Debatte über römische Steuerpolitik wurde er von seinen jüdischen Herausforderern gefragt, ob es erlaubt sei, dem Kaiser Steuern zu zahlen. Jesus überführte sie der Heuchelei, indem er von ihnen nach Aufforderung einen Denar mit dem Bild des amtierenden Kaisers Tiberius ausgehändigt bekam (Matthäus 22,15-22). Auf diesen Münzen stand, dass der Kaiser göttlich sei. Und solch eine Münze mit sich herumzutragen, war für einen frommen Juden ein Affront. Mit seiner Antwort „gebt dem Kaiser, was dem Kaiser gehört, und Gott, was Gott gehört“, blieb Jesus auf der einen Seite kaisertreu und auf der anderen Seite betonte er die Wichtigkeit der Tempelabgabe und somit die Treue zu Gott im Allgemeinen. Die Fangfrage seiner Gegner erwies sich somit als nichtig.
Der staatliche Machtapparat des Tiberius – in Form des Statthalters Pontius Pilatus – sorgte schließlich dafür, dass Jesus auf Betreiben der jüdischen Führungsschichte hingerichtet wurde.
Schluss
Jesus hat kurz vor seinem Ableben sieben uns überlieferte letzte Worte gesagt. Im ersten davon bittet er Gott, seinen Vater, um Vergebung für seine Folterknechte (Lukas 23,34), im zweiten spricht er einem Mitgekreuzigten die Verheißung zu, mit ihm in das Paradies zu kommen (Lukas 23,43). Der dritte Spruch zielt auf die Versorgung seiner Mutter ab, da Jesus als Versorger wegfiel (Johannes 19,26f), während er im vierten Gott fragt, warum er ihn nun verlassen habe (Markus 15,34). Im fünften Ausspruch bittet Jesus um etwas zu Trinken (Johannes 19,28), während er im sechsten verlautbaren lässt, dass es nun vollbracht sei (Johannes 19,30), um zuletzt sein ganzes Sein in die Hände Gottes, seines Vaters zu legen (Lukas 23,46). In diesen Aussprüchen drückt sich Jesu enge Beziehung zum Vater und seine Fürsorge für seine Mitmenschen aus.
Augustus hingegen fragte vor seinem Tod, ob er denn seine Rolle gut gespielt habe. Und falls ja, sollte man ihm doch applaudieren. Von Tiberius wissen wir nur, dass er nach seinen Dienern rief und, als niemand von ihnen kam, auf dem Weg zu ihnen zusammenbrach.
Mit Jesu Tod sind die Evangelien aber noch nicht am Ende. Drei Tage später fängt die Geschichte Jesu eigentlich erst so richtig an. Was niemand für möglich gehalten hat passiert: Jesus Christus steht von den Toten auf. Das ist das entscheidende Ereignis, welches die Hoffnung auf das ewige Leben möglich macht. Ohne Jesu Auferstehung, so führt Paulus aus, wäre der christliche Glaube nichts wert (1.Korinther 15). Christus besiegt den Tod, fährt in den Himmel auf, regiert fortan mit dem Vater im Himmel und nimmt jeden in seine Familie auf, der ihm vertraut. Das ist die Botschaft, die Paulus faszinierte und ihn dazu bewegte, eine Menge Leid zu ertragen, damit so viele Menschen wie möglich diese Botschaft hören.
Die vielleicht erstaunlichste Verbindung zwischen Tiberius und Jesus berichtet der christliche Apologet Tertullian im Jahr 197 n.Chr. in seinem Apologeticum. Er schreibt:
„Tiberius nun, zu dessen Zeit der Name der Christen in die Weltgeschichte eintrat, berichtete dem Senat vom ihm aus dem syrischen Palästina gemeldeten Ereignis, dass dort die Wahrheit der Gottheit selbst offenbart hatte, und stimmte dem ausdrücklich zu. Der Senat mißbilligte es […].“[8]
Er schreibt dies im Zusammenhang von antichristlichen Gesetzen des römischen Staates und dass bei ihnen jemand zum Gott werden kann, wenn die Menschen ihn zu einem Gott machen wollen. Und so hat Tiberius also nach Tertullian dem Senat einen Antrag gestellt, Jesus zum Gott zu erheben und damit in das römische Pantheon (Götterversammlung) aufnehmen zu lassen, was dieser aber nicht genehmigte. Die Plausibilität dieses Vorgangs soll an dieser Stelle nicht abgewogen werden. Es bleibt aber ein faszinierendes Gedankenspiel.
Abschließend bleibt Folgendes über Christus und Tiberius (weitestgehend aber auch generalisierend über „den römischen Kaiser“) zu sagen:
„Der eine regierte, als der andere durch einen seiner Beamten als [sic!] Kreuz geschlagen wurde. Der eine ist als verachteter Kaiser in die Geschichtsbücher eingegangen, der andere lebt noch heute für Menschen der unterschiedlichsten Völker weit über die Grenzen des Römischen Reichs hinaus. Skeptiker mögen bezweifeln, daß es im Abendland zu einer Renaissance des Christentums kommen wird. Daran, daß es zu keiner Renaissance der römischen Söhne Gottes und ihres Kaiserkults kommen wird, zweifelt niemand. Der große Reinaissancekünstler Raffael, in antiker Mythologie ebenso zu Hause wie in christlicher Geschichte, malte auf eine Decke in den vatikanischen Palästen ein Podest, vor dem die zerbrochenen Reste einer Götterstatue zu sehen sind. An ihrer Stelle steht der gekreuzigte Christus. Raffael zeigt bis heute allen, die nach oben schauen: Am Kreuz der Römer hängt einer, der über Tiberius und seine Welt triumphierte.“[9]
[1] Vergil, 4. Ekloge. Zitiert nach Dahlheim, S.381.
[2] Vgl. Plinius, Naturgeschichte 2,94. Zitiert nach Huttner, S.196.
[3] SIG³ 760; Iv Ephesos 251 (Inschrift). Zitiert nach Huttner, S.178.
[4] Vgl. Dahlheim, S. 192.
[5] Vgl. Cassius Dio, Römische Geschichte 51,20,7f. Zitiert nach Dahlheim, S.195.
[6] Nach Sueton, Tiberius, 32,2. Vgl. Thiede, S.153.
[7] Vgl. Dahlheim, S.374.
[8] Tertullian, Apologeticum 5. Zitiert nach Thiede, S.331.
[9] Thiede, S.336f.
Literatur:
- Dahlheim, Werner: Augustus. Aufrüher, Herrscher, Heiland. Eine Biographie. München 2010.
- Huttner, Ulrich: Römische Antike. Tübingen 2013.
- Thiede, Carsten Peter: Jesus und Tiberius. Zwei Söhne Gottes. München 2004. (Wie unschwer zu erkennen ist, inspirierte der Titel dieses Buches die Überschrift dieses Artikels.)
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