Im Westen: Kein Tod, kein Leben
Der Umgang mit dem Leben und dem Tod in unserer Gesellschaft ist irgendwie seltsam. Uns ist allen klar, dass wir einmal sterben müssen, ja. Trotzdem – oder gerade deswegen – spielen das Sterben und der Tod eine marginale Rolle in unserem alltäglichen Leben. Betagte Menschen, die nicht mehr lange zu leben haben, fristen ihre Existenz zum größten Teil entweder einsam oder zusammen separiert in Altenheimen. Schwerstkranke werden in der letzten Zeit auf der Palliativstation versorgt. Zweifellos sind dies gute und erhaltenswerte Einrichtungen, aber dennoch beschleicht einen das Gefühl, dass dieses durchaus schwere Thema damit abgeschoben wird. Öffentliche Einrichtungen kümmern sich um die dem Sterben Nahen, im Privaten möchte man am besten so wenig wie möglich mit dem Sterben und dem Tod konfrontiert sein. Wer könnte es nicht verstehen?
Aber wenn der Tod schon weitestgehend ausgesondert worden ist, was ist dann das Pendant dazu, das uns antreibt – was ist das Leben? Ist das Leben ein Weg, den die meisten Menschen einschlagen? Also Arbeiten, Geld verdienen, heiraten, Familie gründen, den Lebensabend genießen? Oder ist das Leben eher ein Gefühl, das sich in Freude und Genuss ausdrückt? Vielleicht ist es auch eine Aufgabe mit einer Verantwortung, der man sich stellen muss?
Alle diese möglichen Antworten können ein Teil der richtigen Antwort sein. Aber ist dann erschöpfend erklärt, was Leben ist? Der US-amerikanische Physiker und Nobelpreisträger Steven Weinberg hat sich allein schon wegen seiner Grundlagenforschung zur Entstehung unseres Kosmos viele Gedanken über das Leben gemacht und darüber, was ihn persönlich antreibt. Er gibt am Ende seines Klassikers Die ersten drei Minuten zu bedenken, dass es egal sei, welches physikalische Modell sich schlussendlich für die Entstehung des Lebens durchsetzt, denn es würde keinen Trost spenden. Aus der Vogelperspektive sehe die Welt so friedlich und freundlich aus, allerdings befinde sie sich in einem lebensfeindlichen Universum, dass irgendwann durch Hitze oder Kälte ausgelöscht werden wird. Je begreiflicher das Universum sei, desto sinnloser erscheine es auch. Er schließt mit den ernüchternden Worten:
„Doch wenn die Früchte unserer Forschung uns keinen Trost spenden, finden wir zumindest eine gewisse Ermutigung in der Forschung selbst. Die Menschen sind nicht bereit, sich von Erzählungen über Götter und Riesen trösten zu lassen, und sie sind nicht bereit, ihren Gedanken dort, wo sie über die Dinge des täglichen Lebens hinausgehen, eine Grenze zu ziehen. Damit nicht zufrieden, bauen sie Teleskope, Satelliten und Beschleuniger, verbringen sie endlose Stunden am Schreibtisch, um die Bedeutung der von ihnen gewonnenen Daten zu entschlüsseln. Das Bestreben, das Universum zu verstehen, hebt das menschliche Leben ein wenig über eine Farce hinaus und verleiht ihm einen Hauch tragischer Würde.“[1]
Durch die Erforschung seines Ursprungs sei das menschliche Leben lediglich ein wenig über einen Hauch tragischer Würde hinausgehoben. Das sind wahrlich keine erbaulichen Worte. Bei Weinberg bedeutet Leben also die Erforschung seiner selbst, bevor man schließlich mit dem Tod seine Existenz verliert.
Insgesamt kann man eine allgemeine Tragik erkennen: Weil der Tod mit all seiner Kälte so dominant ist und gleichzeitig jede Perspektive auf ein Leben nach dem Tod als lächerliches Märchen („Götter und Riesen“) abgetan wird, verkommt das gegebene Leben zu einer grauen Existenz. Das irdische Dasein steht nun so unter dem Druck, erfüllend oder wenigstens sinnhaftig zu sein, sodass es drohen kann, unter dieser Last zu zerbrechen. Die Gefahr ist hoch, dass alle Wünsche und jedes Tun zu einem Haschen nach Wind werden, also nichtig sind, wie es der alttestamentliche Prediger ausdrückte (Prediger 1,14). Nichts erfüllt langfristig und nur wenig – wenn überhaupt – kann einen belastbaren Sinn schenken.
Ägypten: Eine Kultur des Todes
Ganz im Gegenteil zu unserer Kultur entfernten die alten Ägypter den Tod nicht aus ihrem Leben, vielmehr beeinflusste er maßgeblich das Leben in Ägypten. Der Ägyptologe Jan Assmann formuliert in seinem Standardwerk Tod und Jenseits im Alten Ägypten sogar die generalisierende These, dass jede Form von Kultur ihren Ausgangspunkt im Tod und Sterben hat. Die beiden Begriffe Tod und Kultur erklärend, schreibt er:
„Der Tod ist Ursprung und Mitte der Kultur. Der Tod – das bedeutet die Erfahrung des Todes, das Wissen um die Endlichkeit des Lebens, die rituellen Rahmungen von Sterben und Trauer, die Spur der Gräber, das Weiterleben der Toten, die Gemeinschaft der Lebenden mit den Toten, der symbolische Austausch zwischen den Welten der Lebenden und der Toten, das Streben nach Unsterblichkeit, nach Fortdauer in irgendeiner Form, irgendwelchen bleibenden Spuren und Wirkungen, nach mehr Welt und mehr Zeit.“[2]
Nach Assmann fungieren der Tod und jegliche damit in Zusammenhang bestehende Erfahrung somit als Quellen der menschlichen Kultur. Nicht nur das: der Tod gestaltet somit die Kultur maßgeblich und drückt ihr seinen eigenen Stempel auf. Zur Kultur schreibt er weiter:
„Die Kultur – das bedeutet ein allen Einzelkulturen zugrundeliegendes Prinzip, so wie «die Sprache» allen Einzelsprachen zugrundeliegt. Der Mensch ist ein auf Kultur angelegtes Wesen. Kultur gibt es freilich immer nur im Plural, so wie es auch die Sprache nur in der Konkretheit der einzelnen Sprachen gibt. Und doch prägt sich in allen einzelnen Kulturen wie in allen einzelnen Sprachen ein im Menschen angelegtes Prinzip der Kulturfähigkeit bzw. der Sprachfähigkeit aus, und die Vermutung, von der ich ausgehe, zielt darauf, daß es einen Zusammenhang gibt zwischen dem Prinzip der Kulturfähigkeit und der spezifisch menschlichen Beziehung zum Tod.“[3]
In Ägypten erfahre diese auf den Tod angelegte Kultur eine extreme Ausprägung, weshalb er sie als exemplarisches Beispiel für seine These, dass Kultur und Tod eng zusammenhängen, anführe.
Die Begründung dafür liegt im Wesen des Menschen. Auf der einen Seite ist es dem Menschen nicht vergönnt, ewig zu leben. Auf der anderen Seite sorgt die „Freiheit zur kulturellen Selbsterfindung, Selbstgestaltung, Formung, Zähmung und Züchtung“ in Verbindung mit der Todesgewissheit dafür, dass der Mensch eine Kultur schaffen kann, in der der Tod im Mittelpunkt steht. Der Mensch steht also zwischen dem Tier, das zwar nicht ewig lebt, sich dessen aber auch nicht bewusst ist, und (einem) Gott, der auch freiheitliche Schaffenskraft hat, aber nicht sterben muss. Kurz gesagt: Die Spannung liegt zwischen einem Zuwenig an Leben und einem Zuviel an Wissen, die den Menschen unruhig macht und nach Höherem bzw. Unvergänglichem streben lässt.
Die Ägypter verdrängten den Tod nicht, sondern investierten in ihrem Leben viel Zeit und Energie in seine Bewältigung „mit dem Bau von Pyramiden für die Könige und riesiger Grabmonumente für die hohen Beamten, mit der Dekoration und Ausstattung dieser Gräber, Kenotaphe und Gedenkkapellen, mit der Herstellung von Statuen, Stelen, Opfertafeln, Sarkophagen, Holzsärgen, Totenbüchern, mit der Produktion von Totenopfern und der Durchführung der Totenriten“[4]. Mit diesen Dingen verband sich für die Ägypter die Hoffnung auf Überwindung des Todes durch ein besseres Leben im Jenseits. Abschließend kann man mit Assmann sagen:
„An der ägyptischen Kultur kann man wie an kaum einer anderen beobachten, was es heißt, den Tod nicht hinzunehmen und ihn dennoch in den Mittelpunkt allen Sinnens und Trachtens, allen Planens und Handelns zu stellen und ihn in vielfältigster Weise zum Thema kultureller Gestaltung zu machen. Die Ägypter haßten den Tod und liebten das Leben.“[5]
Evangelium: Eine Kultur des Lebens
Zugegebenerweise ist der in diesem Kapitel verwendete Begriff der „Kultur“ nicht exakt identisch mit dem zuvor verwendeten Kulturbegriff für die Ägypter. Während letzterer eher die in der ganzen Gesellschaft angewandten Maßnahmen zur Überwindung des Todes meint, zielt der hier verwendete Begriff auf die Einstellungen und die daraus resultierenden Handlungsweisen von Individuen und Gruppierungen, die an Jesus Christus, den Sohn Gottes, glauben. Die Handlungsweisen sind hierbei keine standardisierten (magischen) Rituale wie im alten Ägypten, sondern konkrete, im Alltagsleben durchgeführte Taten.
Wenn wir uns nun dem christlichen Evangelium zuwenden, stellen wir fest, dass sowohl der Ausgangspunkt als auch das Ziel auf allgemeiner Ebene vergleichbar mit der ägyptischen Kultur des Todes sind. Die Bewältigung bzw. der Weg, der zu dem Ziel hinführt, ist aber ein anderer. Gehen wir die drei Punkte einmal durch.
Ausgangspunkt. Laut der biblischen Tradition ist der Mensch mit dem Tod konfrontiert. Damit ist aber nicht nur der leibliche Tod gemeint, nein, das Problem reicht weit tiefer. Die Erzählung der beiden ersten Menschen führt aus, dass sie im Paradies eine nahe Verbindung zu Gott hatten und immerfort vom Baum des Lebens essen konnten, der ihnen Unsterblichkeit verlieh. Von allen Bäumen durften sie essen, außer von dem Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen, andernfalls müssten sie sterben. Als sie sich hinreißen ließen, dennoch von diesem Baum zu essen, mussten sie das Paradies verlassen. Sie verloren nicht nur ihre Unsterblichkeit, auch ihre Beziehung zu Gott ging zu Bruch (1.Mose 2f). Fortan war ihnen somit auch klar, dass sie einmal sterben müssten. Das „Zuwenig an Leben“ und das „Zuviel an Wissen“, von denen Assmann spricht, treffen hier aufeinander.
Dennoch liegt in der Erkenntnis, dass die eigene Zeit mehr oder weniger knapp bemessen ist, ein großer Segen. So sagt schon der Psalmist: „Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden“ (Psalm 90,12). Dadurch kann einem die Kostbarkeit des Lebens, jedes Tages und jeder Stunde bewusst werden. Aber nicht nur das ist wichtig, sondern auch die Erkenntnis, dass die Schwere des Todes jeden Menschen, ja die ganze Schöpfung bedrückt (Römer 8,22). Der Grund dafür ist die Sündhaftigkeit, die generell in der Welt ist und auch an jedem Menschen haftet:
„Durch einen einzigen Menschen ist die Sünde in die Welt gekommen und durch die Sünde der Tod. Auf diese Weise ist der Tod zu allen Menschen hingekommen, weil sie ja alle gesündigt haben.“ Römer 5,12.
Ziel. Bei der Realisierung des Todes bzw. des Sterbenmüssens entsteht natürlich der Wunsch, nicht zu sterben bzw. nach dem Tod weiterzuleben. Das dürfte einem westlichen Menschen des 21. Jahrhunderts genauso ergehen wie dem alten Ägypter. Nach dem biblischen Zeugnis reicht es jetzt aber nicht aus, „nur“ den Tod zu überwinden. Das ist so isoliert gar nicht möglich. Wenn wir uns den eben zitierten Vers noch einmal vergegenwärtigen, ist der Tod unmittelbar an die Sünde geknüpft, er ist also eine Folge der Sünde, die wiederum dessen Ursprung ist. Auf Sünde folgt der Tod, und zwar der leibliche wie auch der geistliche Tod in der Beziehung zu Gott. Das bedeutet, dass nicht zuerst der Tod überwunden werden muss, sondern die Sünde. Es ist wie bei einem Infekt, der den Körper angreift und Erkältungssymptome verursacht. Egal, wie sehr man nun die Symptome durch Naseputzen und Hustenbonbons bekämpft, sie werden nicht verschwinden. Erst wenn der Körper den Infekt als Ursache bekämpft hat, verschwinden auch die Symptome.
Überwindung. Bei den alten Ägyptern sorgten die Furcht vor dem Tod und der Wunsch nach ewigem Leben dafür, dass sich eine komplexe Kultur des Todes entwickelt hat. Das eigene Leben und das Tun der Menschen mussten dazu dienen, den Tod zu überwinden. Die peniblen Rituale wurden exakt durchgeführt, um ewiges Leben zu ermöglichen.
Die biblische Botschaft unterscheidet sich hier in zweifacher Weise. Zum einen steht nicht der Mensch im Mittelpunkt der Todesüberwindung, sondern Jesus Christus, Gott selbst. So schreibt Johannes:
„Gottes Liebe zu uns ist darin sichtbar geworden, dass er seinen einen und einzigartigen Sohn in die Welt sandte, um uns in ihm das Leben zu geben. Die Liebe hat ihren Grund nicht darin, dass wir Gott geliebt haben, sondern dass er uns geliebt und seinen Sohn als Sühnopfer für unsere Sünden gesandt hat.“ 1. Johannes 4,9f.
In Jesus Christus treffen sich Tod und Leben. Und andersherum, als wir es vom Menschen kennen: Zuerst kommt der Tod, dann das Leben durch die Auferstehung von den Toten. Mit Christus werden also alte Perspektiven auf den Kopf gestellt.
Zum anderen unterscheidet sich die biblische Botschaft dadurch, dass das Leben nicht erst nach dem Tod beginnt, sondern schon bei der Inanspruchnahme von dem, was Christus getan hat. Er selbst sagt:
„Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er stirbt. Und wer im Glauben an mich lebt, wird in Ewigkeit nicht sterben.“ Johannes 11,25f
Der Glaube bewirkt also schon ewiges Leben im Hier und Jetzt. Grund dafür ist, dass Christus selbst im Christen wohnt:
„Jetzt lebe nicht mehr ich, sondern Christus lebt in mir. Und das Leben, das ich jetzt noch in meinem sterblichen Körper führe, das lebe ich im Glauben an den Sohn Gottes, der mich geliebt und sich selbst für mich ausgeliefert hat.“ Galater 2,20.
Das mag vielleicht erstmal befremdlich klingen, aber genau das sagt Jesus selbst zu. Somit wird die Auferstehung zu einer Kraft, die Gewissheit über die persönliche Rettung schafft. Das Leben im Jenseits bei Gott dient als Antrieb, Trostquelle und Kraftspender für das Diesseits. Und nicht nur das: Christus selbst wohnt im Christen.
Wenn das mal kein guter Ausgangspunkt für eine persönliche Kultur des Lebens ist! Die Gewissheit, dass ich meine Anstrengung nicht darauf richten muss, (ewiges) Leben zu erhalten, sondern aus der Kraft leben darf, schon (ewiges) Leben empfangen zu haben, sprengt einengende Fesseln und macht den Blick weit. Zum einen dafür, das Leben aus Gottes Hand dankbar anzunehmen und zu genießen, zum anderen dafür, das Leben für ihn zu leben und es immer mehr aus seinen Augen zu sehen. Und außerdem: Wer möchte denn eine solch gute Botschaft für sich behalten?
Fazit
Jesus Christus ist das Leben selbst (Johannes 14,6). Deshalb kann er wahres Leben schenken. Die Angst vor dem Tod kann sich dadurch legen und auch die Hast, möglichst viel in das hiesige Leben hineinzupacken. Wir brauchen mehr Perspektive auf das ewige Leben, wir brauchen mehr die Kraft der Auferstehung, wir brauchen mehr von Christus.
Einer Frau, die Jesus an einem Brunnen traf und die in ihrem Leben auf der verzweifelten Suche nach, Sinn, Erfüllung und Liebe war, sagte er einmal:
„Jeder, der von diesem Wasser trinkt, wird wieder durstig werden. Wer aber von dem Wasser trinkt, das ich ihm geben werde, wird niemals mehr Durst bekommen. Das Wasser, das ich ihm gebe, wird in ihm eine Quelle werden, aus der Wasser sprudelt – bis ins ewige Leben hinein.“ Johannes 4,14.
[1] Weinberg, Steven: Die ersten drei Minuten. Der Ursprung des Universums. München 2004, S.162.
[2] Assmann, S.1.
[3] Ebd., S.1.
[4] Ebd., S.20.
[5] Ebd., S.20.
Literatur:
Assmann, Jan: Tod und Jenseits im alten Ägypten. München 2001.
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