Zum Inhalt springen

Hat Josephus oder Lukas die Volkszählung des Quirinius falsch datiert?

Die Evangelien von Lukas und Matthäus bieten wertvolle Einblicke in das Leben Jesu, aber sie werfen auch komplexe historische Fragen auf, die seit Jahrhunderten diskutiert werden. Eine der am häufigsten genannten Diskrepanzen betrifft die Volkszählung, die Lukas mit der Geburt Jesu in Verbindung bringt. Lukas 2,1-2 berichtet, dass Jesus während einer Volkszählung geboren wurde, die unter der Aufsicht von Quirinius stattfand. Matthäus hingegen verortet die Geburt Jesu in die Regierungszeit von König Herodes dem Großen, der zwischen 4 v. Chr. und möglicherweise sogar 2 v. Chr. starb.

Hier beginnt das Problem: Der jüdische Historiker Flavius Josephus datiert die Volkszählung von Quirinius auf das Jahr 6 n. Chr., lange nach Herodes’ Tod. Diese scheinbare Diskrepanz hat viele Gelehrte zu der Annahme geführt, dass Lukas einen Fehler gemacht hat. Doch was wäre, wenn es nicht Lukas ist, der sich geirrt hat, sondern Josephus? Der Gelehrte John H. Rhoads hat in einem Aufsatz die Theorie aufgestellt, dass Josephus die Volkszählung des Quirinius möglicherweise falsch datiert hat (Rhoads, J. H. (2011). Josephus Misdated The Census of Quirinius). Diese Sichtweise verdient eine sorgfältige Betrachtung.

Der abgebildete Grabstein gehört Quintus Aemilius Secundus, einem römischen Offizier, der in der Provinz Syrien tätig war. Besonders bemerkenswert ist die Inschrift, die darauf hinweist, dass er unter dem römischen Legaten Publius Sulpicius Quirinius eine Volkszählung in der Stadt Apamea durchführte. Diese Erwähnung ist von großer historischer Bedeutung, da Quirinius in der Bibel, insbesondere im Evangelium nach Lukas (Lukas 2,1-3), im Zusammenhang mit einer Volkszählung genannt wird, die zur Zeit der Geburt Jesu Christi stattfand.

Der jüdische Historiker Flavius Josephus erwähnt ebenfalls eine Volkszählung, die von Quirinius in Judäa durchgeführt wurde, was zu erheblichem Widerstand führte und letztlich zu einer Revolte der Zeloten beitrug. Die Volkszählung wird daher oft als ein historisches Ereignis betrachtet, das in verschiedenen Quellen dokumentiert ist, einschließlich biblischer Texte und römischer Inschriften wie dieser.
Der Grabstein von Q. Aemilius Secundus, der eine Volkszählung für den Legaten Quirinius in Apamea in Syrien durchführte. Foto: Jona Lendering / Livius.org / CC0 1.0 Universal

Josephus: Ein unfehlbarer Historiker?

Josephus gilt als eine der wichtigsten Quellen für die jüdische Geschichte des ersten Jahrhunderts, doch es gibt zahlreiche Beispiele, in denen er Ereignisse falsch datierte oder durcheinander brachte. Ein oft genanntes Beispiel ist seine Fehldatierung des Baus des Samaritanischen Tempels (The Samaritans in Flavius Josephus, S. 43). Auch in der Erzählung über die Herrschaft von Herodes dem Großen gibt es einige Unstimmigkeiten:

„Josephus behauptet, Herodes der Große sei 15 Jahre alt gewesen, als ihm das Gebiet von Galiläa übertragen wurde, aber er lag höchstwahrscheinlich um zehn Jahre daneben.“ (The Herods of Judaea in the Age of Jesus Christ, Bd. 1, S. 275).

Das Bild zeigt eine künstlerische Schwarz-Weiß-Darstellung des jüdisch-römischen Historikers Josephus Flavius, wie er an einem alten Holztisch sitzt und sorgfältig einen Text niederschreibt. Er trägt eine traditionelle, reich verzierte Robe und einen kunstvoll gewickelten Turban, die seine gehobene Stellung als Gelehrter betonen. Seine konzentrierte Miene und der weiße Bart verleihen ihm eine weise, würdevolle Ausstrahlung.

Auf dem Tisch liegen mehrere antike Schriftrollen, von denen einige bereits entrollt sind, sowie ein Tintenfass mit einem fein gearbeiteten Federkiel. Josephus ist gerade dabei, seine Aufzeichnungen über die Volkszählung unter dem römischen Statthalter Quirinius zu verfassen – ein Ereignis, das in vielen Details mit dem Bericht des Evangelisten Lukas übereinstimmt.

Der Hintergrund zeigt ein steinernes Bücherregal voller weiterer Schriftrollen, die sorgfältig aufgereiht sind. An den Wänden sind gravierte Inschriften zu erkennen, die möglicherweise Hinweise auf historische Ereignisse oder philosophische Gedanken geben. Eine antike Öllampe auf dem Tisch spendet ein sanftes Licht, das die Szene stimmungsvoll beleuchtet und die Atmosphäre eines antiken Studierzimmers verstärkt.

Die gesamte Szene vermittelt ein Gefühl von historischer Authentizität und Gelehrsamkeit, indem sie Josephus Flavius als akribischen Chronisten darstellt, dessen Werke für die Nachwelt von großer Bedeutung sind.
Künstlerische Darstellung: Josephus Flavius

Darüber hinaus hat Josephus die Tendenz, Ereignisse aus verschiedenen Quellen zu wiederholen und sie an unterschiedlichen Stellen in seiner Chronologie zu platzieren.

Der Historiker Daniel Schwartz hat herausgefunden, dass Josephus oft dasselbe Ereignis mehrfach erzählt und es fälschlicherweise in unterschiedliche Zeiträume einordnet. Ein prominentes Beispiel ist die doppelte Erwähnung von Agrippa I. in Josephus’ „Jüdischen Altertümern“: Einmal geht es um seine Gesandtschaft nach Judäa im Jahr 38 n. Chr., das andere Mal beschreibt Josephus dasselbe Ereignis so, als ob es zu einem späteren Zeitpunkt stattgefunden hätte.

„Josephus’ Schlampigkeit – die das einigende Prinzip dessen bildet, was andernfalls ein unbeholfenes historiosophisches Flickwerk wäre.“
– Seth Schwartz, Joseph and Judean Politics, S. 197

Die Theorie von John H. Rhoads

Rhoads’ Ansatz ist, dass Josephus einen ähnlichen Fehler bei der Datierung der Volkszählung des Quirinius gemacht haben könnte. Rhoads schlägt vor, dass Josephus die Volkszählung nicht in das Jahr 6 n. Chr. einordnen sollte, sondern in die letzten Jahre von Herodes’ Herrschaft, also etwa 7 bis 5 v. Chr. Wenn dies zutrifft, dann könnte Lukas in seiner Darstellung der Geburt Jesu genauer gewesen sein, als viele annehmen.

Rhoads‘ Argument basiert auf der Analyse mehrerer Berichte von Josephus, die alle einen Aufstand in Judäa unter der Führung eines Mannes namens Judas erwähnen. Diese Berichte umfassen:

  1. Ein Aufstand vor Herodes’ Tod (Antiquities of the Jews (Ant.) 17.148-67):
    Judas, der Sohn eines Mannes aus Sepphoris in Galiläa, führt eine Gruppe von Anhängern an, die ein römisches Symbol aus dem Tempel entfernen. Herodes lässt Judas und seine Anhänger hinrichten.
  2. Ein Aufstand nach Herodes’ Tod (Antiquities of the Jews (Ant.) 17.269-85):
    Ein weiterer Judas, der Galiläer, führt eine Rebellion gegen die Herrschaft von Herodes’ Sohn Archelaus und plündert ein Waffenlager.
  3. Ein Aufstand zur Zeit der Volkszählung von Quirinius (The Jewish War (J.W.) 2.117-18 & Antiquities of the Jews (Ant.) 18.4-23)
    Dieser Judas, der Galiläer, protestiert gegen die Steuererhebung, die mit der Volkszählung verbunden ist.
Siehe auch  Wie viele Seiten hat die Bibel? - und andere Fakten

Rhoads glaubt, dass es sich bei diesen drei Berichten um dasselbe Ereignis handelt, das Josephus an verschiedenen Stellen in seiner Chronologie falsch eingeordnet hat. Dies ist angesichts der Tatsache, dass Josephus häufig aus unterschiedlichen Quellen schöpft, nicht unwahrscheinlich. Außerdem spielen in allen drei Berichten dieselben Hauptakteure eine Rolle: Judas der Galiläer und der Hohepriester Joazar.

Der Hohepriester Joazar

Ein wichtiger Anhaltspunkt für die Richtigkeit dieser Theorie ist die Rolle von Joazar, dem Hohepriester, der in allen drei Berichten erwähnt wird. Joazar unterstützt Quirinius in der dritten Erzählung bei der Durchführung der Volkszählung, wird aber dennoch von Quirinius abgesetzt. Dies erscheint unlogisch, da Joazar doch Quirinius bei der Beruhigung des Volkes geholfen hatte (From Joshua to Caiaphas – James VanderKam, Seite 419).

Rhoads argumentiert, dass die Absetzung Joazars tatsächlich nicht im Jahr 6 n. Chr. stattfand, sondern nach Herodes’ Tod, als Unruhen das Land erschütterten. Judas und seine Anhänger forderten nach Herodes’ Tod Joazars Absetzung, und es wäre plausibel, dass Quirinius (oder ein anderer römischer Beamter, wie Sabinus) in dieser Zeit Joazar absetzte, um die Spannungen zu beruhigen. Das Ereignis wurde später fälschlicherweise auf 6 n. Chr. verlegt.

Sabinus und Quirinius: Ein und dieselbe Person?

Ein faszinierender Aspekt von Rhoads’ Theorie ist die mögliche Verwechslung von Quirinius mit einem römischen Prokurator namens Sabinus, der zur Zeit von Herodes’ Tod nach Judäa geschickt wurde, um den Besitz von Herodes zu sichern. Sabinus war in den Berichten von Josephus aktiv an der Verwaltung der Provinz beteiligt, ähnlich wie Quirinius in der späteren Volkszählung.

Rhoads spekuliert, dass Sabinus und Quirinius möglicherweise dieselbe Person waren. Sabinus könnte ein Spitzname gewesen sein, da beide ähnliche Titel und Aufgaben hatten und beide römische Beamte mit Konsulrang waren. Diese Hypothese könnte erklären, warum Quirinius in Verbindung mit Ereignissen auftaucht, die kurz nach Herodes’ Tod stattfanden, obwohl Josephus die Volkszählung auf 6 n. Chr. datiert.

Die Genauigkeit von Lukas

Ein weiteres starkes Argument für Rhoads‘ Theorie ist die allgemeine Zuverlässigkeit des Evangelisten Lukas.

Der Historiker Colin Hemmer hat 84 Fakten in den letzten 16 Kapiteln der Apostelgeschichte identifiziert, die durch historische und archäologische Daten bestätigt wurden. Lukas‘ Genauigkeit in Bezug auf geografische Details, lokale Titel und politische Entwicklungen ist bemerkenswert. Dies deutet darauf hin, dass Lukas auch bei der Datierung der Volkszählung von Quirinius korrekt gewesen sein könnte.

Quelle: The Book of Acts in the Setting of Hellenistic History
Das Buch „The Book of Acts in the Setting of Hellenistic History“ von Colin J. Hemer untersucht die Apostelgeschichte im historischen und kulturellen Kontext der hellenistischen Welt. Es beleuchtet die Verbindungen zwischen den Ereignissen der Apostelgeschichte und der griechisch-römischen Geschichte. Buch erwerben

Schlusszitat aus der Studie von John H. Rhoads

„Zugegeben, einige Leser mögen die Standardlesart immer noch für plausibler halten. Diese Leser erkennen vielleicht an, dass Josephus anfällig für Zahlendreher oder Datumsänderungen war, bestehen aber darauf, dass er sich beim Datum der Volkszählung nicht geirrt hat. Sie mögen anerkennen, dass Josephus anfällig für die Doppeldeutigkeit zwischen „Archelaus“ und „König Herodes“ war, bestehen aber darauf, dass er sich bei der Berichterstattung über die Mission des Quirinius nicht schuldig gemacht hat.

Diese Leser mögen es außerdem plausibler finden, dass zwei Aufständische gegen Herodes innerhalb weniger Wochen um die Zeit von Herodes‘ Tod herum aktiv waren – beide mit dem Namen Judas, beide mit Verbindungen zu Sepphoris, und beide mit dem Spitznamen eines berühmten Vaters. Sie ziehen es vielleicht auch vor, dass der eine von Herodes dem Großen hingerichtet wurde, weil er den Tempel des Herodes überfallen hatte, während der andere zehn Jahre nach dem Überfall auf die Waffenkammer des Herodes wartete, um die gleiche Art und Weise und den gleichen Inhalt der Lehren des ersten anzunehmen, nur damit sein Aufstand gegen die Steuererhebung von genau demselben Hohepriester bekämpft wurde, der sich dem früheren Judas widersetzt hatte – obwohl dieser Hohepriester Berichten zufolge während dieser zehn Jahre zweimal abgesetzt wurde.

Sie bleiben der von Josephus erzählten Geschichte treu und beharren darauf, dass die Ähnlichkeit zwischen Sabinus und Quirinius sowohl im Titel als auch in der Tätigkeit ebenso zufällig sein muss wie die Ähnlichkeit in den Berichten über Judas und Joazar, dass aber die Erwähnung von Coponius bei Antipatros‘ Prozess eine unerklärliche, falsche Einfügung in den Text ist.“ (Rhoads, J. H. (2011). Josephus Misdated The Census of Quirinius. https://repository.globethics.net/handle/20.500.12424/161295)

Fazit: Eine plausible Theorie

Das Bild zeigt eine antike Szene, in der römische Offizielle eine Volkszählung zur Zeit von König Herodes dem Großen durchführen. Diese Szene greift auf die biblische Darstellung im Lukas-Evangelium und die historischen Schriften von Josephus zurück. Im Vordergrund sind römische Soldaten zu sehen, die die Ordnung überwachen, während die Bevölkerung sich in traditionellen Gewändern für die Volkszählung registriert. Die römischen Adler und Banner betonen die Macht des Römischen Reiches, und im Hintergrund ist der Tempel von Herodes zu erkennen, der den jüdischen Kontext widerspiegelt. Die Atmosphäre deutet auf die Spannungen und den Einfluss der römischen Herrschaft hin, und verweist auf die historische Kontroverse um die Datierung dieser Volkszählung, wie sie bei Lukas und Josephus beschrieben wird.

Die Theorie von John H. Rhoads, dass Josephus die Volkszählung des Quirinius falsch datiert hat, ist eine interessante und plausible Sichtweise, die es wert ist, ernsthaft in Betracht gezogen zu werden. Josephus war zwar ein bedeutender Historiker, doch seine Werke sind nicht frei von Fehlern, insbesondere in Bezug auf Chronologie. Es ist möglich, dass Lukas bei der Datierung der Geburt Jesu genauer war, als viele annehmen. Dies würde nicht nur Lukas rehabilitieren, sondern auch eine tiefere historische Verbindung zwischen den Evangelien und den historischen Ereignissen in Judäa aufzeigen.

Siehe auch  Ist es gut, dass es dich gibt?

Quellen:

  • Rhoads, J. H. (2011). Josephus Misdated The Census of Quirinius. https://repository.globethics.net/handle/20.500.12424/161295
  • The Samaritans in Flavius Josephus – Reinhard Pummer
  • Flavius Josephus Interpretation and History – Jack Pastor, Pnina Stern, Menachem Mor
  • The History of the Jewish People in the Age of Jesus Christ, vol 1 – Emil Schürer
  • Joseph and Judean Politics – https://www.jstor.org/stable/3260820
  • Flavius Josephus – John M. G. Barclay
  • A Companion to Josephus – Daniel Schwartz
  • Judaism: Practice and Belief – E. P. Sanders
  • Background of Early Christianity – Everett Ferguson
  • Studies in the Jewish Background of Christianity – Daniel Schwartz
  • From Joshua to Caiaphas – James VanderKam
  • The Demography of Roman Egypt – R. S. Bagnall and B. W. Frier
  • The Lucan Censuses, Revisited – Brook Pearson
  • The Book of Acts – Colin Hemer

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert