Vor hundert Jahren marschierten fortschrittliche Frauen durch die Straßen von New York und forderten das Wahlrecht und gleiche Rechte. Einige von ihnen rauchten öffentlich Zigaretten – ein provokativer Akt, der das Stigma durchbrechen sollte, wonach Rauchen als ein „männliches Vergnügen“ galt.
In den 1950er-Jahren war das Rauchen dann längst in der Mitte der Gesellschaft angekommen – es stand für Glamour in Hollywood, und Tabakkonzerne wie Philip Morris sponserten Amerikas beliebteste Fernsehsendung I Love Lucy.
Spulen wir 75 Jahre vor: Heute führt das Rauchen im Fernsehen schnell zu einer Alterseinstufung des Inhalts oder zumindest zu einem Warnhinweis. Zigaretten sind in fast allen öffentlichen Räumen verboten, und die Raucherquote ist dramatisch gesunken. Stattdessen drehen sich die gesellschaftlichen Debatten nun um neuere Phänomene wie das Vapen oder die Legalisierung bestimmter Drogen. Und doch ist der kulturelle Wandel beim Thema Rauchen unübersehbar – angetrieben von der unumstößlichen Evidenz seines Zusammenhangs mit Krebs.
Diese „Raucher-Revolution“ bringt mich ins Nachdenken: Was könnten wir als Gesellschaft in den nächsten hundert Jahren ebenso radikal überdenken?
Der Mythos unaufhaltsamer technologischer Gewohnheiten
Unsere Gesellschaft – tief geprägt von einer aufklärerischen Fortschritts-Erwartung – geht oft stillschweigend davon aus, dass sich alles in eine immer bessere Richtung entwickelt. Fast reflexhaft glauben wir, dass jeder technologische Fortschritt ein Schritt nach vorn ist. Doch die Geschichte zeigt etwas anderes.
Man stelle sich vor, man hätte jenen fortschrittlichen Frauen der 1920er-Jahre gesagt – die mutig gegen das Anti-Raucher-Stigma ihrer Zeit auftraten –, dass ihr „revolutionärer“ Tabakgenuss innerhalb eines Jahrhunderts gesellschaftlich geächtet sein würde. Für sie wäre das völlig unvorstellbar gewesen. Und doch – genau das ist eingetreten.
Welche Überzeugungen vertreten wir heute mit ähnlicher Selbstverständlichkeit, die künftige Generationen nur noch ungläubig zur Kenntnis nehmen werden? Noch vor zehn Jahren haben Hunderte von Schulen in aller Eile iPads in den Unterricht integriert – nur um sie später wieder abzuschaffen, nachdem Studien erhebliche negative Auswirkungen auf das Lernen der Schüler belegten.
Welche technologischen Gewohnheiten, die wir heute als selbstverständlich hinnehmen, könnten in Zukunft ebenfalls einer gründlichen Neubewertung unterzogen werden?
Unsere digitalen Gewohnheiten hinterfragen
Könnte der Tag kommen, an dem endloses Scrollen ähnlich als schädlich für unsere seelische Gesundheit erkannt wird, wie Rauchen für unsere körperliche? Werden wir das Einstiegsalter für Smartphones neu überdenken – oder den unkritischen Umgang Erwachsener mit sozialen Medien? Werden künftige Generationen auf den heutigen nahezu unbegrenzten Zugang zu Pornografie mit Entsetzen und Unverständnis zurückblicken?
Anfangs wirken digitale Innovationen immer vielversprechend: E-Mails machten Kommunikation einfacher, Facebook brachte alte Freunde zusammen, Twitter stillte unseren Hunger nach schnellen Nachrichten, Instagram gewährte Einblicke ins Leben anderer – und TikTok faszinierte uns mit einem unheimlich treffsicheren Algorithmus. Doch heute leben wir in einer Welt des zwanghaften Scrollens, dressiert wie Versuchstiere, die ohne nachzudenken den Feed neu laden.
Die Folge? Eine innere Abstumpfung, die unsere Aufmerksamkeit dämpft, unser Staunen schwächt und unsere Fähigkeit untergräbt, wirklich präsent zu sein – dort, wo wir gerade sind.
Wir schauen einen Film auf dem Großbildschirm im Wohnzimmer – ein Wunderwerk, das unsere Urgroßeltern in Staunen versetzt hätte – und doch greifen wir zum Handy, wischen weiter, unsere Augen springen zwischen großem und kleinem Bildschirm hin und her. Und dann ist da noch der permanente Druck, unser Leben öffentlich zu machen – auf der Suche nach Anerkennung durch Fremde im Netz. Auch wenn alle Likes der Welt keine echte Liebe ersetzen. Auch wenn selbst tausende Follower den tiefen Wunsch nach Bedeutung nicht stillen. Auch wenn der endlose Strom an Videos unsere Traurigkeit nicht vertreiben kann.
Die Statistiken sind bekannt: Angstzustände, Depressionen, Einsamkeit – alles nimmt zu in einer Zeit digitaler Überfülle. So viele Annehmlichkeiten, die Smartphones bieten – doch sie haben auch Nebenwirkungen. Der politische Diskurs ist vergiftet, nicht zuletzt, weil viele im Dauerempörungsmodus durchs Netz streifen. Gemeinden und Gemeinschaften kämpfen, weil Menschen virtuelle Bekanntschaften echten Beziehungen vorziehen – Pseudofreundschaften statt echter Verbundenheit.
Darum frage ich erneut: Werden wir weiter blindlings in eine „Always-Online“-Zukunft steuern? Oder kommt es vielleicht doch zu einem Erwachen?
Anzeichen eines Wandels?
Aktuelle Entwicklungen deuten auf eine mögliche Wende hin. Die Forderung nach Einschränkungen der Smartphone-Nutzung an Schulen gewinnt an Fahrt – angestoßen durch überzeugende Forschungsergebnisse von Wissenschaftlern wie Jonathan Haidt und Jean Twenge. Auf christlichen College-Campussen berichten mir junge Erwachsene, dass ständiges Posten in sozialen Medien zunehmend als „rote Flagge“ in Beziehungen gilt – sei es bei der Freundschaftssuche oder bei der Partnerschaftssuche. Auch eine staatliche Regulierung schädlicher Algorithmen und expliziter Inhalte im Netz gewinnt an Zustimmung. Selbst Virtual Reality – einst als unausweichliche Zukunft gefeiert – stößt mittlerweile auf spürbaren Widerstand: Technologiekonzerne verzeichnen Milliardenverluste, weil viele Menschen sich der tiefen digitalen Vereinnahmung entziehen.
Lass es mich klar formulieren: Wir werden nicht in eine vordigitale Zeit zurückkehren. Wer Anton Barba-Kays eindrucksvolles Werk A Web of Our Own Making liest, kommt nicht umhin zu erkennen, wie tiefgreifend unsere Erfindungen unser Denken, unser Selbstbild und unsere Wirklichkeitswahrnehmung verändert haben. Die digitale Welt ist gekommen, um zu bleiben.
Doch das bedeutet nicht, dass wir das Drehbuch blind übernehmen müssen, das Technik-Enthusiasten für uns geschrieben haben.
Unsere Menschlichkeit zurückgewinnen
Ich frage mich, ob wir eines Tages erleben werden, dass sozialer Druck nicht mehr zur dauerhaften Online-Präsenz, sondern zum digitalen Abstand führt. Ob eine neue Wertschätzung für digitale Entgiftung aufkommt. Ob wir uns abwenden vom Seelenverschleiß, den wir erleben, wenn sich unser ganzes Leben um das magische Gerät in unserer Hand dreht.
Vielleicht blicken wir irgendwann auf unsere Zeit zurück – so wie wir heute auf die Menschen der 1940er- und 50er-Jahre blicken, die ihr Leben „verrauchten“. Und wir fragen uns: Haben sie denn nicht gewusst, wie schädlich das war? Nur: Diesmal sind wir es – und es geht um unsere digitalen Gewohnheiten. Und wir werden sagen: Warum haben wir so lange gebraucht, um umzusteuern?
Wir sind Menschen – keine Maschinen. Ganz gleich, wie leistungsfähig Künstliche Intelligenz noch werden mag. Wir haben Verantwortung. Wir können Kurskorrekturen vornehmen. Natürlich stehen unsere Entscheidungen unter kulturellem Druck, den wir nicht immer durchschauen. Aber gemeinsam können wir die Zukunft gestalten. Rauchen war kein unausweichliches Schicksal. Und ständiges Scrollen ist es auch nicht.
Ich hoffe und bete, dass wir unsere Menschlichkeit wiederentdecken. Dass wir uns nicht versklaven lassen von Geräten, die uns Staunen und Ehrfurcht rauben. Dass wir die Güte dieser Welt neu wahrnehmen, die Gott uns gegeben hat. Dass wir das Wunder erkennen, das in den Menschen liegt, die sonntags neben uns stehen und mit uns den lebendigen Gott anbeten.
Und dass wir die Augen öffnen – und das Handy aus der Hand legen.
Hinweis zur Lizenz und Übersetzung:
Dieser Beitrag erschien zuerst bei The Gospel Coalition. Übersetzung und Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung von Trevin Wax.
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