Es kann wirklich schwer sein, die Gemeinde zu lieben. Jeder Christ, der schon eine Weile unterwegs ist, weiß das.
Die irdische Gemeinde war schon immer ein bunter Haufen. Sie war nie ideal. Das Neue Testament existiert ja gerade deshalb, weil Gemeinden – in unterschiedlichem Ausmaß – schon immer ein ziemliches Durcheinander waren: ein herrliches Durcheinander aus Heiligen, die noch mit verbleibender Sünde kämpfen, mit defekten Genen, belasteten Gedanken und schwachen Körper, und beeinflusst durch eine prägende Vergangenheit.
Dieses Durcheinander wirkt aus der Nähe selten herrlich. Es sieht vielmehr nach viel Sünde aus, nach viel Blut, Schweiß und Tränen, die in scheinbar vergebliche Mühen investiert werden. Oft erscheint uns das Ganze eher wie etwas, dem wir entfliehen möchten, statt uns ihm anzuschließen.
Doch genau so soll es sein. Denn dieses Durcheinander bringt das eine zum Vorschein, das die Mission der Gemeinde mehr voranbringt als alles andere. Und eben deshalb dürfen wir die Gemeinde nicht aus selbstsüchtigen Gründen verlassen.
Die Gemeinde, die wir uns nicht ausgesucht haben
Jesu erste Jünger konnten sich einander nicht aussuchen. Jesus hat sie erwählt (Johannes 15:16). Sie fanden sich einfach plötzlich miteinander konfrontiert.
Auch die darauf folgende Generation von Christen konnte sich nicht aussuchen, mit wem sie Gemeinde leben würde. Sie wurden ebenso in eine Gemeinschaft geworfen mit Menschen, die sie sich vermutlich nie freiwillig ausgesucht hätten: palästinensische und hellenistische Juden, Juden und Heiden, Gebildete und Ungebildete, Sklaven und Sklavenhalter, Arme und Reiche, ehemalige Zeloten und ehemalige Zöllner, ehemalige Prostituierte und ehemalige Pharisäer.
Und Jesus gab diesen ersten Jüngern – und allen Jüngern danach – ein unmögliches Gebot: Liebt einander! (Johannes 15:17). Dieses Gebot musste unmöglich sein, wenn man es nur aus menschlicher Kraft zu erfüllen versucht. Denn diese Liebe sollte Zeugnis geben von Jesus in der Welt (Johannes 13:35) und sichtbarer Ausdruck des unsichtbaren Gottes sein (1. Johannes 4:12). Sie sollte zeigen: „Was bei den Menschen unmöglich ist, das ist bei Gott möglich“ (Lukas 18:27).
Und Jesus setzte seine Jünger in einen unmöglichen Kontext, um dieses unmögliche Gebot zu leben: die Gemeinde (Matthäus 16:18) – eine Gemeinschaft aus ganz unterschiedlichen, von Sünde geprägten, mit Fehlern behafteten Menschen mit sehr verschiedenen Lebensgeschichten, die miteinander in dieser unmöglichen Liebe leben sollen.
Und dann gab Jesus seiner Gemeinde einen unmöglichen Auftrag: das Evangelium in der ganzen gottfeindlichen, Christus hassenden Welt zu verkündigen (Lukas 21:17; Johannes 15:18) und mitten unter allen Völkern unmögliche Gemeinschaften zu gründen – in denen unterschiedliche, sündige, von ihrer Vergangenheit geprägte Menschen zusammenkommen, um Jesu unmögliches Gebot zu leben: einander zu lieben (Matthäus 28:19–20).
Unmögliche Liebe, unmögliche Gemeinschaft und ein unmöglicher Auftrag – das klingt wie ein zum Scheitern verurteiltes Vorhaben. Das kann gar nicht funktionieren – es sei denn, es gibt wirklich einen Gott, der das Menschenunmögliche möglich macht.
Und doch: Hier stehen wir, zweitausend Jahre später. Der unmögliche Auftrag hat unmögliche Gemeinschaften hervorgebracht, die das unmögliche Gebot leben – und das weltweit. Bei all den Problemen der Gemeinde, und davon gibt es viele, ist hier dennoch etwas Übernatürliches am Werk.
Eine übernatürliche, ringende Gemeinschaft
Doch die Gemeinde wirkt selten zu einem bestimmten Zeitpunkt übernatürlich. „Die Gemeinde“, wie wir sie am unmittelbarsten erleben, ist unsere ganz reale, oft unvollkommene Ortsgemeinde – bestehend aus ganz normalen Menschen, die miteinander ringen, darum kämpfen, wie man in einer sich ständig verändernden Welt Gemeinde lebt, und ihren Teil zur Erfüllung des Missionsbefehls beitragen wollen.
Dieses Ringen wirkt nicht gerade übernatürlich. Es ermüdet, frustriert und kann uns manchmal schlicht an unsere Grenzen bringen. Es lässt uns gelegentlich daran denken, einfach aufzugeben.
Aber wir dürfen die Gemeinde nicht aufgeben. Denn gerade das Unordentliche – diese außerordentlich schwierigen und schmerzhaften Dinge, die uns zur Verzweiflung treiben können – sind die Gelegenheiten, in denen die menschlich unmögliche Liebe Christi sichtbar wird und damit das Unsichtbare Gottes sichtbar macht.
Nach dem Neuen Testament misst sich der Erfolg einer Gemeinde nicht an der Zahl ihrer Gottesdienstbesucher, nicht an der Größe ihres Budgets, nicht an der Professionalität ihrer Veranstaltungen und auch nicht an ihrem gesellschaftlichen Einfluss. Der Maßstab ist vielmehr: die Qualität ihrer Liebe.
Eine Gemeinde, die am wirksamsten Zeugnis von Jesus in dieser Welt ablegt, strebt nach Liebe, indem sie:
– einander in Ehrerbietung begegnet (Römer 12:10),
– sich gegenseitig in den Nöten unterstützt (Römer 12:13),
– einander Gastfreundschaft erweist (Römer 12:13),
– sich über die Freude der anderen mitfreut (Römer 12:15),
– über den Schmerz der anderen mitweint (Römer 12:15),
– nach Einheit strebt – trotz aller Unterschiede (Römer 12:16),
– auch die „Geringsten“ in der Gemeinde nicht ausgrenzt (Römer 12:16),
– sich gegenseitig unterordnet (Epheser 5:21),
– beharrlich nach Einmütigkeit sucht, auch in schwierigen Fragen (2. Korinther 13:11),
– die christliche Freiheit dazu nutzt, einander zu dienen (Galater 5:13),
– die Schwächen, Eigenheiten und Unreife des anderen mitträgt (Epheser 4:2),
– die Vielzahl der Sünden des anderen mit Vergebung bedeckt (1. Petrus 4:8; Kolosser 3:13),
– einander dazu anspornt, im Auftrag der Liebe weiterzugehen (Hebräer 10:24),
– und das regelmäßige Zusammenkommen nicht vernachlässigt (Hebräer 10:25).
Und was ruft eine solche Liebe hervor? Lies jede dieser Zeilen noch einmal – und frage dich, welche Situationen solche Liebe notwendig machen. Die kurze Antwort: jede Menge verschiedener Arten von Kämpfen und Herausforderungen. Es sind die mühsamen, unordentlichen Kämpfe, die Liebe herausfordern und sichtbar machen.
Gemeinden sind dazu bestimmt, Gemeinschaften der unmöglichen Liebe zu sein – eine Liebe, die nur funktionieren kann, wenn Gott wirklich ist, das Opfer Christi wirklich ist und der Himmel wirklich ist. Wo diese Liebe fehlt, zerfällt die Gemeinde oder verkommt zu konsumorientierten Events, leeren Ritualen, diffuser „Spiritualität“, rein gesellschaftlichen Initiativen oder zivilreligiösen Versammlungen – allesamt sterbende oder bereits tote Überbleibsel einer einst lebendigen Realität.
Eine gnädig enttäuschende Gemeinschaft
Jesus hat die Gemeinde nicht als einen Ort entworfen, an dem unsere Träume wahr werden. Tatsächlich ist sie oft der Ort, an dem viele unserer Träume enttäuscht werden und sterben. Und das ist mehr Gnade, als uns bewusst ist – denn viele unserer Träume sind selbstbezogener, als wir wahrhaben wollen.
Unsere persönlichen Erwartungen können leicht zu Tyrannen für andere werden – denn andere scheitern daran, ihnen zu entsprechen. Wenn wir mehr darauf fixiert sind, wie die Schwächen und Eigenheiten der anderen unsere Vorstellung von idealer Gemeinschaft behindern, als darauf, ihnen zu dienen und ihr Wohl und ihre Freude zu suchen, dann ersticken unsere Erwartungen die Liebe – und blockieren damit den eigentlichen Auftrag.
Jesus hat die Gemeinde als einen Ort gestaltet, an dem Liebe Wirklichkeit wird – wo wir unsere eigenen Wünsche und Vorlieben zurückstellen, um anderen den Vortritt zu lassen. Die Gemeinde soll ein lebendiges Laboratorium der Liebe sein – ein Ort voller Gelegenheiten, groß und klein, unser Leben füreinander hinzugeben, sodass die Liebe Christi öffentlich sichtbar wird.
Deshalb sollte unser inneres Bild von Gemeinde in diesem irdischen Leben nicht eine utopische Harmonie sein, sondern Golgatha. Im gemeinsamen Leben sterben wir täglich (1. Korinther 15:31). Wir legen unser Leben füreinander nieder (1. Johannes 3:16).
Liebe die Gemeinde, in der du bist
Vor über vierzig Jahren sang Stephen Stills: „If you can’t be with the one you love, honey, love the one you’re with“. Auch wenn er das sicher nicht auf die Gemeinde bezog, lässt sich daraus eine geistliche Wahrheit ableiten.
Es gibt zahlreiche legitime Gründe, eine Gemeinde zu verlassen. Auch solche Abschiede bieten wiederum eine Gelegenheit, gnädige Liebe zu zeigen – mitten im Chaos. Doch wenn unsere Beweggründe Desillusionierung, innere Unruhe, Langeweile, Unzufriedenheit, Erschöpfung, Beziehungskonflikte oder enttäuschte Erwartungen sind, sollten wir unsere Herzen sehr ehrlich prüfen. Denn oft entspringen diese „Früchte“ einem egoistischen Boden. Wir dürfen nicht eine Gemeinde „lieben“, mit der wir nicht zusammen sind – also ein idealisiertes Bild von Gemeinschaft in unserem Kopf. Wir sollen die lieben, mit denen wir gerade Gemeinde leben.
Wir dürfen uns die Jünger nicht aussuchen, mit denen wir unser Glaubensleben teilen – Jesus tut das. Und er stellt uns hinein in eine bunte, fehlerhafte Gemeinschaft von sündigen Heiligen – unter denen wir selbst in mancher Hinsicht die kaputtesten und sündigsten sind (vgl. 1. Timotheus 1:15).
Aber genau darin liegt das große Vorrecht: Wir bekommen unzählige Gelegenheiten, diese Mitjünger so zu lieben, wie Jesus uns geliebt hat. Wir dürfen sie lieben – mit all ihren Ecken und Kanten. Denn gerade durch diese gegenseitige, sich selbst verleugnende, geduldige und vergebende Liebe von kantigen Jüngern untereinander wird Jesus am deutlichsten sichtbar in der Welt – und seine Mission wird am kraftvollsten vorangebracht.
Dieser Beitrag erschien zuerst bei Desiring God. Übersetzung und Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung.
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