Hinweis der Redaktion: Der folgende Auszug stammt aus der Biografie Timothy Keller von Collin Hansen. Darin schildert Hansen Kellers Begegnungen mit Studierenden während einer Evangelisationsveranstaltung der Oxford Inter-Collegiate Christian Union – einer Veranstaltung, bei der Keller mehrfach als Redner auftrat. Im Jahr 2015 nahm er dabei die skeptische Rückfrage eines Zuhörers zur christlichen Sichtweise auf Homosexualität zum Anlass, um die verborgenen Grundannahmen westlichen Denkens offenzulegen – insbesondere in Bezug auf Individualismus, Gemeinschaft und moralische Wahrheit. Aus dieser Begegnung und der geistlichen Frucht, die daraus erwuchs, können wir lernen, wie auch wir in der Evangelisation den Herausforderungen des Säkularismus mit einem durchdachten und biblisch fundierten apologetischen Ansatz begegnen können.
Alle drei Jahre veranstaltet die Oxford Inter-Collegiate Christian Union (OICCU) eine sechstägige Evangelisationswoche, um mehr als 20.000 Studierende in dieser traditionsreichen englischen Universitätsstadt mit dem Evangelium zu erreichen. Die Missionswochen begannen im Jahr 1940, nur wenige Monate vor der Luftschlacht um England. Martyn Lloyd-Jones leitete die Einsätze in den Jahren 1943 und 1951. Auch andere geistliche Vorbilder von Tim Keller – John Stott und Michael Green – standen bei Oxford-Missionen an der Spitze.
Bei seiner ersten Teilnahme an einer Oxford-Mission im Februar 2012 wohnten Tim und Kathy Keller gemeinsam mit ihrem Sohn Michael und dessen Frau Sara im Old Parsonage Hotel, nur wenige Straßen nördlich des Campus der Universität Oxford. Als die Familie eines Abends durch den fallenden Schnee zurückkehrte, sahen sie eine traditionelle Straßenlaterne – ein Moment, in dem der Zauber von Narnia förmlich spürbar war. Oxford trug ihn immer noch in sich.
Abends saß die Familie Keller am Kamin aus dem 17. Jahrhundert und ließ gemeinsam die evangelistischen Vorträge Tims sowie die Reaktionen und Fragen der Studierenden Revue passieren. Aus den Vorträgen des Jahres 2012 entstand später Kellers Buch Encounters with Jesus: Unexpected Answers to Life’s Biggest Questions (dt. Begegnungen mit Jesus: Unerwartete Antworten auf die großen Fragen des Lebens). Viele Themen dieses Buches finden sich bereits in früheren Werken wie The Reason for God (dt. Warum Gott?), Counterfeit Gods (dt. Es gibt keinen Gott außer dir) und The Prodigal God (dt. Der verschwenderische Gott).
Als Keller 2015 erneut nach Oxford zurückkehrte, bestand er darauf, diesmal thematisch statt in der ursprünglich gewünschten Form einer Auslegungspredigt zu sprechen. Er wollte das erproben, was er aus den Schriften von Sozialkritikern wie Charles Taylor, Alasdair MacIntyre, Philip Rieff und Robert Bellah gelernt hatte. Os Guinness hielt die Mittagsvorträge, während Keller abends über Sinn, Identität und Gerechtigkeit sprach. Nach jedem Tag zogen sich die beiden – verbunden durch ihre gemeinsame Wertschätzung für Francis Schaeffer und L’Abri – ans Kaminfeuer im Randolph Hotel zurück und unterhielten sich bis tief in die Nacht. Im Vergleich zu 2012 erlebte Keller 2015 ermutigendere Reaktionen von skeptischen Studierenden.1
Spontan, während einer Fragerunde im Jahr 2015, entwickelte Keller eine seiner bekanntesten Illustrationen.
Er reagierte auf eine Frage zur christlichen Sichtweise auf Homosexualität. Keller erkannte, dass er darauf nicht antworten konnte, ohne zugleich das moderne westliche Identitätsverständnis grundlegend zu hinterfragen. Seine Antwort fand im Sommer desselben Jahres Eingang in sein Buch Preaching: Communicating Faith in an Age of Skepticism (dt. Predigen: Den Glauben in einer skeptischen Zeit vermitteln).
Keller forderte die Studierenden in Oxford auf, sich einen angelsächsischen Krieger im Britannien des Jahres 800 vorzustellen. In seinem Inneren verspürt dieser den Drang, jeden zu vernichten, der ihn nicht respektiert. Diese Reaktion entspricht der Ehre-und-Scham-Kultur seiner Zeit – und so handelt er. Zugleich spürt er eine sexuelle Anziehung zu Männern. Seine Kultur verlangt, dass er diese Empfindungen unterdrückt – also folgt er auch hier der kulturellen Norm und lebt sie nicht aus.
Nun stellen wir uns einen Mann desselben Alters vor, der heute durch die Straßen Manhattans geht. In seinem Inneren fühlt er dasselbe wie der angelsächsische Krieger: Er möchte jeden töten, der ihn schief anschaut, und er verspürt sexuelles Verlangen nach Männern. Unsere heutige westliche Kultur schickt ihn wegen seiner Aggressionen zur Therapie – aber seine sexuelle Orientierung wird er öffentlich bekennen und mit ihr seine Identität verknüpfen.
Was lehrt uns dieses Gedankenexperiment? Keller erklärt:
Es zeigt vor allem, dass unsere Identität nicht einfach aus unserem Inneren kommt. Vielmehr nehmen wir ein interpretierendes, moralisches Raster auf – eine Art Wertefilter – und legen es über unsere verschiedenen Empfindungen und inneren Impulse. Dieses Raster hilft uns zu entscheiden, welche Gefühle zu unserem „Ich“ gehören und zum Ausdruck gebracht werden sollen – und welche nicht. Dieses interpretierende Glaubenssystem – nicht der reine, ungefilterte Ausdruck unserer Gefühle – formt letztlich unsere Identität. Trotz anderslautender Behauptungen spüren wir instinktiv, dass unser Innerstes allein nicht ausreicht, um uns zu leiten. Wir brauchen einen Maßstab, eine Autorität außerhalb von uns selbst, um die widerstreitenden Impulse unseres Inneren zu ordnen. Und woher beziehen der angelsächsische Krieger und der moderne Manhattaner ihr jeweiliges Raster? Aus ihrer Kultur, ihrem sozialen Umfeld, ihren prägenden Geschichten. Sie „wählen“ also nicht einfach, sie selbst zu sein – sie filtern ihre Gefühle, verwerfen manche und nehmen andere an. Sie entscheiden sich dafür, die Version ihrer selbst zu sein, die ihre Kultur ihnen erlaubt. Am Ende ist eine Identität, die ausschließlich auf unseren inneren Empfindungen basiert, eine Illusion.2
Anstatt direkt auf die Frage nach Homosexualität einzugehen, lenkte Keller den Blick auf die tieferliegenden Grundannahmen über Identität in der westlichen Kultur – jenes Konzept, das Robert Bellah als „expressiven Individualismus“ bezeichnete. Bellahs Werk Habits of the Heart: Individualism and Commitment in American Life, erstmals 1985 veröffentlicht, beschreibt dieses Denken folgendermaßen:
„Der expressive Individualismus geht davon aus, dass jeder Mensch einen einzigartigen Kern an Gefühlen und Intuitionen besitzt, der entfaltet und ausgedrückt werden muss, damit wahre Individualität verwirklicht werden kann.“3
Individualität mag das Ziel sein, doch – wie Keller anhand des angelsächsischen Kriegers deutlich macht – entsteht Identität immer im Kontext von Gemeinschaft. Und Gemeinschaften prägen, welche Werte Eingang in unsere Identität finden dürfen. Niemand ist völlig frei, einfach alles zu sein, was er möchte – schon gar nicht, wenn der Staat säkulare Vorstellungen von Sexualität gesetzlich und im öffentlichen Bildungswesen verankert. Die kulturelle Macht suggeriert uns, dass wir unsere individuelle Identität frei ausdrücken – während wir in Wirklichkeit alle dasselbe tun.4
Diese Spannung zwischen Selbstausdruck und Gemeinschaft ist wie ein Sprengsatz unter der Implosion des aufklärerischen Menschenbildes. Bellah und seine Kollegen erkannten dieses Problem lange, bevor die gleichgeschlechtliche Ehe im Westen gesetzlich verankert wurde.
„Was wir vor allem fürchten – und was die Geburt einer neuen Welt verhindert –, ist die Vorstellung, dass wir unseren Traum vom privaten Erfolg aufgeben müssten zugunsten einer wirklich integrierten Gemeinschaft. Wir fürchten, dadurch unsere Eigenständigkeit und Individualität zu verlieren und in Abhängigkeit und Tyrannei zu verfallen. Was wir jedoch schwer erkennen, ist, dass es die extreme Zersplitterung der modernen Welt ist, die unsere wahre Individualität bedroht. Das Beste an unserer Abgrenzung und Selbstverwirklichung – unser Sinn für Würde und persönliche Autonomie – bedarf einer neuen Form von Integration, wenn es Bestand haben soll.“5
Mit anderen Worten: Jeder Mensch sehnt sich zugleich nach Freiheit und Gemeinschaft. Doch das, was im Westen oft als „Freiheit“ ausgegeben wird, ist in Wirklichkeit Fragmentierung – eine Zersplitterung, die echte Gemeinschaft auf Dauer unmöglich macht, es sei denn durch äußeren Zwang. Christen zeigen ihre Liebe zu ihren Mitmenschen, indem sie auf Jesus hinweisen – der wahre Freiheit von der Sünde und wahre Gemeinschaft mit dem dreieinigen Gott im Leib Christi schenkt.
Beeinflusst durch Bellah und andere sozialkritische Denker, flossen Kellers Vorträge in Oxford im Jahr 2015 schließlich in sein Buch Making Sense of God: An Invitation to the Skeptical (Gott im Blick behalten: Eine Einladung an Skeptiker; bisher nicht auf Deutsch erschienen) ein, das im Herbst desselben Jahres veröffentlicht wurde. Im Vergleich zu The Reason for God (Warum Gott?) hat Making Sense of God kein breites Publikum erreicht. Doch es ist das apologetische Buch, das Keller bereits 2008 geschrieben hätte – wenn er damals schon gewusst hätte, was er später lernen sollte.
Making Sense of God zielt darauf ab, die Grundannahmen hinter den Einwänden gegen das Christentum aufzudecken. Gleichzeitig möchte es das Interesse an Jesus wecken, indem es die inneren Widersprüche westlicher Versuche aufzeigt, eine tragfähige Alternative zur Denkweise der Aufklärung zu entwickeln. Bislang jedoch hat sich das dafür notwendige Publikum – intellektuell interessiert und geistlich offen – außerhalb ausgewählter Kontexte wie den Oxford-Missionen noch kaum finden lassen. Eine dieser Missionen gestaltete Keller 2019 erneut.6
Vor seiner Mission 2019 veränderte die OICCU das gewohnte Format und verlagerte die Kleingruppengespräche auf die Wochen vor den Vorträgen – statt wie üblich im Anschluss. Das Resultat war noch ermutigender als 2015 und veranlasste Keller dazu, erste Überlegungen anzustellen, wie sich ein solches Modell der Evangelisation auf die Vereinigten Staaten übertragen ließe.
Fußnoten:
- Tim Keller, Interview mit Collin Hansen, 24. Juni 2021. ↩︎
- Timothy Keller, Preaching: Communicating Faith in an Age of Skepticism (New York: Viking, 2015), 135-136. ↩︎
- Robert N. Bellah, Richard Madsen, William M. Sullivan, Ann Swidler und Steven M. Tipton: Habits of the Heart: Individualism and Commitment in American Life (Berkeley und Los Angeles: University of California Press, 2008), S. 333–334. ↩︎
- Timothy Keller: Hope in Times of Fear: The Resurrection and the Meaning of Easter (New York: Viking, 2021), S. 197. ↩︎
- Ebd., sinngemäß zitiert nach Bellah et al. ↩︎
- Craig Ellis, Interview mit Collin Hansen, 15. Januar 2021. ↩︎
Dieser Beitrag erschien zuerst bei 9marks. Übersetzung und Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung.
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