Dieser Artikel ist der Zweite Teil einer Artikelreihe über die Messianität Jesu. Erschienen ist bisher:
In diesem zweiten Teil wollen wir die Begriffsdefinition“ Messias“ klären, was bedeutet dieser Begriff? Bedeutet Messias und Christus das gleiche? Was bedeutet es, dass jemand zu einem Amt gesalbt ist? Zu welchen Ämtern wurde man im Alten Testament gesalbt? In wie weit ist Jesus der Gesalbte?
Somit: Was ist eigentlich ein Messias?
Das griechische Wort Χριστος (dt. Christus) im Namen unseres Herrn ist die allgegenwärtige und offensichtliche Erinnerung daran, dass das Neue Testament davon ausgeht, dass Jesus der im alten Testsament verheißene Messias ist. Vielleicht ist sie manchmal so offensichtlich, dass wir die Bedeutung dieses Titels übersehen. Das Wort Χριστος ist die Übersetzung des hebräischen Begriffes מָשִׁיחַ (mā·šîah) und bedeutet „der Gesalbte“ (Joh 1:41). Das Alte Testament berichtet uns, wie Priester (3Mose 4:3.5.16; 6:15; 8.12), Könige (1Sam 10:1; 16:13; 24:7.11; 26:9; 2Sam 23:1) und Propheten (1Kön 19,15-16) gesalbt wurden, um in ihren Dienst eingeführt zu werden. Gelegentlich ist eine Salbung nicht direkt an ein konkretes Amt gebunden, bzw. meint nicht notwendigerweise eine Salbung zum König, Priester oder Prophet (Ps 105:15, ggf. auch Dan 9:25f.). Dass es jedoch vor allem diese drei Ämter sind, zu denen man durch Salbung geweiht wurde, steht außer Frage.
Johannes Calvin war der erste[1], der in Christus ein dreifaches Amt als König, Priester und Prophet ausgemacht hat[2]. Seitdem hat dies diese Lehre von der reformierten Tradition ausgehend weit verbreitet.[3] Dieses Konzept findet sich aber auch zunehmend in der katholischen[4], jüdisch-messianischen Theologie[5] aber auch z. B. in der Bekenntnisschrift des bekanntesten Theologen der russischen Evangeliums-Christen, Iwan Stepanowitsch Prochanow, der diese Haltung in seiner Schrift „изложение евангельской веры, или вероучение евангельских христиан[6]“ (zu Deutsch etwa: „Auslegung des evangelisches Glaubens oder die Glaubenslehre der Evangeliums-Christen“) formuliert hat. Es ist in der reformierten Theologie üblich vor allem das Königsamt Jesu zu[7] betonen – was häufig verknüpft ist mit dem Zusammenhang vom König und seinem Reich (Gottes Reich oder Reich der Himmel), wie man es im Werk von Carl F. H. Henry beispielhaft beobachten kann, z. B. im zweiten Kapitel des zweiten Bandes seines Lebenswerks: „God, Revelation and Authority“[8]. Hier konzentriert sich Henry auf die Bedeutung der Offenbarung des Gottessohns im Zusammenhang mit Gottes Reich. Überraschend dazu fällt in der Formulierung Prochanows die Betonung des Priesteramts Christi auf. Im oben genannten Bekenntnis schreibt Prochanow im sechsten Kapitel „Gottes Rettungsplan zum Heil der Menschheit“ (eigene gekürzte Übersetzung und eigene Hervorhebungen):
„Während seines Dienstes auf der Erde war Jesus Christus: 1) Prophet (Joh 4:44), da er lehrte (Mt 7:29), prophezeite (Luk 13:33) und Wunder tat (Joh 6:14); 2) Hohepriester – Er brachte ein Opfer dar, um das Menschengeschlecht zu erlösen und um für dieses Geschlecht vor dem Vater Fürsprache einzulegen (Hebr 7:24-28); Er vollbrachte die Erlösung als einen Akt der größten Selbstaufopferung eines Gottes der Liebe (Joh 3:16 1 Joh 4:9); als Lösegeld (Mt 20:28; Mk 10:45); als Gehorsam gegenüber dem Gesetz und Einlösung der Gerechtigkeit (Gal 4:4-5; Phil 2:8); als Sühneopfer (Hebr 9:11-12; Joh 1:29; Röm 3:22-26). Nachdem er sein irdisches Opfer vollbracht hat, tritt Jesus Christus für das Menschengeschlecht bei seinem himmlischen Vater ein (Hebr 7:23.25). Im Sühnetod Christi wurden die Gerechtigkeit Gottes und seine Liebe zusammengebracht. Er, der keine Sünde kannte, wurde für uns ein Opfer für die Sünde. In diesem Opfer ‚trafen sich Barmherzigkeit und Wahrheit, Wahrheit und Frieden umarmten sich‘ (2Kor 5:21; Ps 84:11). […] Es ist das einzige Mittel zur Erlösung, und es gibt kein anderes (Röm 5:15-17). […] 3) Er ist der geistliche König, weil er das Reich der Gnade (Röm 14:17) und das Reich der Herrlichkeit (Mt 16:28; Luk 1:33) gegründet hat.“
Wenn ich diese Aussage Prochanows so ausführlich zitiere, dann mit der Absicht zu zeigen, wie weitreichend die Deutung des dreifachen Amtes Jesu in seinem Messiasdienst geht.Außerdem macht Prochanow deutlich, dass Jesus dieses dreifache Amt vor allem in der Absicht, der Mittler zwischen Gott und Mensch zu werden, einnimmt. Auch wenn er diesen Mittlerdienst vor allem im priesterlichen Dienst Jesu sieht, unterstreicht Prochanow ausführlich die Exklusivität Jesu in diesem Mittlerdienst. Prochanow deutet die Ämter Christi korrekt im Werk Christi als Mittler. Sowohl zwischen Gott und Mensch, aber auch als Mittler zwischen der Gerechtigkeit und der Liebe Gottes.
Sicherlich ist es möglich, die Beachtung der drei Ämter Christi überzubetonen. Ein Beispiel dafür mögen die Argumentationen John Frames sein, der eine ganze Lebensanschauung, die er als „Triperspektivismus“ bezeichnet, aus den drei Ämtern Christi ableitet[9]. Es soll hier auch nicht bestritten werden, dass allzu künstliche Konstruktionen der drei Ämter erstellt werden: Ein Beispiel dafür wäre das Skalieren aller messianischen Motive auf eines der drei Ämter, wodurch eine konstruierte Überlagerung stattfindet. Z. B. stellt Belcher den Dienst Adams im Garten in diesen drei Ämtern dar, um daraufhin Christus als den Neuen Adam abzubilden[10]. Das klingt zu konstruiert, denn der Zusammenhang zwischen Adam und Christus, wie ihn Röm 5:12-21 darstellt kann vollständig hergestellt werden, ohne Adam zunächst auch zu einem König, Priester und Prophet zu erklären. Anders ausgedrückt: Paulus vergleicht in Röm 5:12-21 nicht die Ämter von Adam mit den Ämtern von Christus, sondern die Gerechtigkeit Adams mit der Gerechtigkeit Christi; die Sünde des einen mit der Gnadengabe des anderen. Die Betonung der drei Ämter lenkt auf diese Weise von der tatsächlichen Parallele (der Stellvertretung für die Menschen in Sünde einerseits bzw. in der Gerechtigkeit andererseits) die Röm 5 zwischen Adam und Christus zieht, ab.
Solche Auswüchse dürfen aber nicht den wertvollen Gehalt eines umfassenden Blicks auf Christi Mittlerdienst schmälern, der von drei Ämtern Christi ausgeht. Eine gelungene Formulierung für diese Ämter findet sich in der dreiundzwanzigsten Frage des Westminster Kürzeren Katechismus: „Welche Ämter führt Christus als Erlöser aus? Als Erlöser führt Christus die Ämter eines Propheten, eines Priesters und eines Königs aus, in beidem, seinem Zustand der Erniedrigung und der Erhöhung“[11]. Hier betont der Katechismus genauso wie Prochanows Bekenntnisschrift, dass Christus sowohl in seiner Zeit der irdischen Erniedrigung wie auch in seiner Zeit der Erhöhung König, Priester und Prophet bleibt. Damit geht Jesu Salbung über die Salbung „vergänglicher“ Könige, Priester und Propheten hinaus.
Was bedeutete es im Alten Testament, gesalbt zu werden? M. Barrett weist darauf hin, dass alle Salbungen alttestamentlicher „Messiasse“ gemeinsame Faktoren besaßen, die uns helfen können, ihre Bedeutung in der Salbung Christi zum ultimativen Messias zu verstehen.[12] Zunächst ist ein Messiah immer ein von Gott auserwähltes Individuum.[13] Nie waren diese Positionen für Freiwillige offen. Eine Selbstberufung zum König oder gar zum Priester wäre ein gewaltiger Affront gewesen. Tatsächlich war zunächst selbst der Wunsch nach einem König bereits ein Angriff auf den Königsanspruch Gottes (1Sam 8:7). Die vollführte Salbung war immer ein Zeichen dafür, dass Gott sich seinen Diener wählt. Die Salbung zum Messias bedeutete immer auch eine Verknüpfung mit Autorität.[14] Nur der Priester durfte priesterliche Dienste, wie die Darbringung von Opfern, ausführen. Die Autorität der Könige ist das, was Samuel dem Volk vor Augen stellt, als es sich einen König wünscht (1Sam 8:10-22). Mit der Salbung wird auch eine Bevollmächtigung versinnbildlicht[15], wobei hier die Salbung mit dem Öl die Erfüllung und Bevollmächtigung durch den Geist Gottes versinnbildlicht.
Jesus der Christus, Jesus der Gesalbte! Fast auf jeder Seite des Neuen Testaments finden wir diesen Ausdruck, der 531-mal im Neuen Testament vorkommt, Gerade Paulus liebt diesen Ausdruck und verwendet ihn ganze 383-mal in seinen Briefen[16].
Vielleicht ist gerade die Selbstverständlichkeit, mit der das Neue Testament Jesus als den Christus bezeichnet, der Grund dafür, warum wir die Brisanz dieses Titels übersehen. Nachdem Andreas Jesus begegnet geht er zu seinem Bruder und sagt: „Wir haben den Messias gefunden“ (Joh 1:39). Die Frau aus Samarien erzählt den Menschen aus ihrem Ort: „Kommt, seht einen Menschen, der mir alles gesagt hat, was ich getan habe, ob er nicht der Christus sei!” (Joh 4:29). Was auch immer die Samariterin oder Andreas konkret für Vorstellungen über den Messias hatten, es bleibt außer Frage, dass sie bestimmte Vorstellungen darüber in Christus sahen. Es fehlt hier auch die konkrete Einschränkung des (einen) Messias, des (einen) Christus auf. Andreas sagt nicht, „wir haben einen (weiteren) Messias gefunden“. Damit wird klar, dass die Zeitgenossen Jesu verstanden, dass das Bild der Salbungen zum König, Priester etc., wie sie uns das Alte Testament berichten nur „Schattenbilder“ bzw. „Vorlagen“ des einen sind, der irgendwann endgültig gesalbt ist. Der das Auserwählte Individuum per se ist, der die Autorität schlecht hin besitzt und der diese Berufung mit einer nie erlebten Bevollmächtigung umsetzen wird.
Jesus Christus wird uns in den Evangelien aber auch als der Menschensohn (Mt 8:20; 12:8; 16:13.28; Mk 8:38; 10:45; Luk 6:22; 7:34; Joh 1:51; 3:13.14) und Sohn Gottes[17] (Mt 4:6; 8:29; 14:33; 16:16; Mk 3:11; 5:7; 15:39; Luk 1:32-35; 22:70; Joh 1:34.49; 5:25; 10:36) vorgestellt. Der häufig Jesus verliehene, aber auch als Selbstbezeichnung verwendete Ausdruck „Menschensohn“ wird gelegentlich nicht als Hoheitstitel sondern als Ausdruck der Demut gewertet,[18] jedoch übersieht man bei einer solchen Deutung, dass Jesus diese Selbstbezeichnung in besonders triumphalen bzw. herausfordernden Momenten verwendet z. B. in den Leidensankündigungen (Mt 17:12; Mk 9:12;14:21), in den Endzeitreden (Mt 19:28; 24:27.30), als Erklärung der Berufung Jesu im Johannesevangelium (Joh 5:27; 6:27.53) oder im Verhör vor dem Hohen Rat (Mt 26:63). Gerade das Verhör vor dem Hohen Rat macht deutlich, dass die Begriffe Sohn Gottes und Menschensohn synonymisch als messianische Titel verstanden wurden (Mt 26:63-64).
[1] Louis Berkhof. Systematic Theology. Grand Rapids: Eerdmans, 1938, 356.
[2] Johannes Calvin. Unterricht in der christlichen Religion, Institutio Christianae Religionis. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2012: II,15; 263-268
[3] Richard P. Belcher Jr. zählt unterschiedliche Autoren auf, darunter unter zeitgenössischen Autoren Robert Dabney, Charles Hodge, Herman Hoeksema, James Boice, Wayne Grudem, John Frame, und Michael Horton. Unter Puritanern: John Owen, John Flavel, Thomas Boston, und Thomas Goodwin. Aus Richard P. Belcher Jr. Prophet, Priest, and King: The Roles of Christ in the Bible and Our Roles Today. Phillipsburg: P&R Publishing. 2016, 2.
[4] Richard P. Belcher Jr. „Prophet, Priest, and King”, 2-
[5] Vgl. diese Webseiten: https://messianicbible.com/feature/meet-messiah-yeshua-our-high-priest/ [letzter Zugriff 10.08.2024] oder https://reformjudaism.org/learning/torah-study/torah-commentary/judges-kings-priests-and-prophets-jewish-leadership-status [letzter Zugriff 10.08.2024].
[6] Vgl. https://slavicbaptists.com/2012/02/10/prohanovconfession/ [letzter Zugriff 10.08.2024].
[7] Vgl. z. B. Bavinck, Herman, Reformed Dogmatics v.3. Sin and salvation in Christ, Baker Academic, Grand Rapids, 2008, 367.
[8] Carl F. H. Henry. God, Revelation and Authority. Volume II: God who speaks and Shows – Fifteen Theses, Part One. Wheaton: Crossway Books, 1999, thesis 2.
[9]Vergleiche dafür seine frei zugänglichen Werke unter https://frame-poythress.org/ebooks/ [letzter Zugriff 10.08.2024] in: “Three Dimensions, A Guide to Triperspectivalism and its Significance” oder seine Ausführungen in “A History of Western Philosophy and Theology”.
[10] Richard P. Belcher Jr. Prophet, Priest, and King, 5f.
[11] Der kürzere Westminster Katechismus von 1657. MBS-Texte 61. Bonn: Martin Bucer Seminar/Reformiertes Forum, 2005, 5.
[12] Michael P. V. Barrett. Beginning at Moses: A Guide to Finding Christ in the Old Testament. Grand Rapids: Reformation Heritage Books, 2018, 22.
[13] Michael P. V. Barrett, Beginning at Moses, 22.
[14] Michael P. V. Barrett, Beginning at Moses, 24.
[15] Michael P. V. Barrett, Beginning at Moses, 26.
[16] Ferdinand Hahn. „Χριστός“.In: Horst Balz/Gerhard Schneider (Hg.). Exegetisches Wörterbuch zum Neuen Testament. Stuttgart: Kohlhammer, 2011, 1149.
[17] Ferdinand Hahn. „υἱός“. Horst Balz/Gerhard Schneider (Hg.). Exegetisches Wörterbuch zum Neuen Testament. Stuttgart: Kohlhammer, 2011, 916.
[18] „Menschensohn, Menschenkind“. In: Sebastian Feydt (Hg.). Kleines Lexikon zum Christentum. Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt, 2007, 102.
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