„Es ist unbegreiflich“ – Wenn ein Suizid uns erschüttert

„Es ergibt einfach keinen Sinn und fühlt sich an, als könne es nicht wahr sein.“ Wieder ein Suizid.

Der Freund, der mir schrieb, hatte einen engen Freund verloren – einen Christen, dessen Glaube allem Anschein nach echt und lebendig war. Und doch wurde er von einer unbegreiflichen Finsternis und einer unaussprechlichen Verzweiflung überwältigt – einer Verzweiflung, mit der er, zumindest im Moment seiner letzten Entscheidung, nicht mehr leben konnte. Mein Freund stand unter Schock, getroffen von einer Tragödie, die sich jeder Erklärung entzieht.

Wir sprechen vom „Problem des Bösen“ – dem Versuch, das Vorhandensein von Leid und Bösem mit dem Glauben an einen allmächtigen, vollkommen guten und allwissenden Gott in Einklang zu bringen. Doch die Bezeichnung „Problem“ wird dem, was wir in dieser gefallenen Welt erleben, kaum gerecht.

Gib die Frucht zurück

Ein lebensfroher Freund nimmt sich plötzlich das Leben. Ein geliebtes Kind stirbt an einer Krankheit. Wir werden Zeugen von Folter. Der Ehepartner, dem wir alles anvertraut haben, verlässt uns. Die Türme, getroffen von Flugzeugen, stürzen auf dreitausend Menschen ein. Der grausame Missbrauch, den wir erlitten haben, bedeckt uns jahrzehntelang mit Scham. Solche Tragödien und Sünden ergeben für uns fast nie einen Sinn. Und je näher wir dem zerstörerischen Wirken des Bösen sind, desto chaotischer und sinnloser erscheint es uns.

In solchen Erfahrungen erkennen wir die wahre Natur des Bösen – und sie ist schlimmer, als wir es uns je vorgestellt haben. Die Ereignisse selbst und Gottes gute Vorsehung, die sie nicht verhindert hat (zumal wir wissen, dass er in anderen Fällen eingreift), übersteigen unser rationales Fassungsvermögen. Es bleiben quälende, rätselhafte Fragen, auf die nur Gott eine Antwort weiß. Und meistens gibt er sie uns nicht – zumindest nicht konkret. Nur selten offenbart er uns den spezifischen Grund, warum er unsere persönlichen Tragödien zugelassen hat – samt all der daraus resultierenden Trümmer.

Dabei erkennen wir: Wir sind schlicht nicht geschaffen, um das volle Wissen über Gut und Böse zu tragen. Es ist zu komplex für uns, wir sind diesem Wissen nicht gewachsen. Es überfordert uns in jeder Hinsicht. Und die barmherzige Wahrheit ist: Gott verlangt nicht von uns, dass wir diese Last tragen. Er bittet uns, sie ihm zu überlassen. Er bittet uns, ihm die Frucht zurückzugeben.

Barmherziges Geheimnis

Es gibt Geheimnisse, die Barmherzigkeit sind. Große Barmherzigkeit.

Die Frucht vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse barg ein Geheimnis – eines, das Gott für uns verborgen halten wollte. Er warnte Mann und Frau, dass es besser für sie wäre, davon nicht zu essen. Es würde ihr Tod sein, wenn sie es täten. Stattdessen wollte er, dass sie ihm vertrauen – im Umgang mit diesem Wissen und in seiner Verwaltung desselben (1. Mose 2:17).

Doch der Satan sagte ihnen, die Frucht würde sie nicht töten, sondern ihre Augen öffnen – sie würden wie Gott sein, wissend um Gut und Böse (1. Mose 3:4–5). Sie glaubten ihm – und aßen. Dann wurden ihnen tatsächlich die Augen geöffnet, aber auf eine Weise, die sie vorher nicht kannten – und auf eine Weise, der sie nicht gewachsen waren. Und seither leben wir unter der Last dieser Erkenntnis.

Jenseits unseres Verstehens

Infolge dieser ersten Sünde hat Gott die Schöpfung der Vergänglichkeit unterworfen (Römer 8:20), und der Böse erhielt eine gewisse Art von Herrschaft über die Welt (1. Johannes 5:19). Die Sünde hat uns zutiefst infiziert. Nicht nur wurden uns die Augen für mehr Wissen geöffnet, als wir erfassen können – wir wurden auch anfällig für die Täuschungen des Bösen.

Unsere innewohnende sündige Natur beeinträchtigt zudem unser Vermögen, das Gute zu erkennen und zu würdigen. Deshalb brauchen wir „Kraft, … zu begreifen … die Liebe des Christus, die alle Erkenntnis übersteigt“ (Epheser 3:18–19). Deshalb sollen wir im Gebet bewusst die „Frieden Gottes, der allen Verstand übersteigt“, suchen, wenn uns Sorgen bedrängen (Philipper 4:7). Und deshalb sind wir auf „den Geist der Weisheit und Offenbarung“ angewiesen, damit er „die Augen unseres Herzens erleuchtet“, damit wir erkennen, „zu welcher Hoffnung er uns berufen hat“ (Epheser 1:17–18). Selbst wenn wir sündenlos wären, würde Gottes Güte unsere Vorstellungskraft übersteigen – wie viel mehr in unserem gefallenen Zustand (1. Korinther 2:9).

Wir haben eine große Barmherzigkeit verspielt, als wir glaubten, weise wie Gott sein zu können – und damit die Büchse der Pandora öffneten: das Geheimnis der Erkenntnis von Gut und Böse.

Geheimnisse im Leiden Hiobs

„Geheimnis“ beschreibt Dinge, die sich jenseits unseres Wahrnehmungsvermögens (was wir nicht sehen) oder unseres Verstandes (was wir nicht begreifen) befinden. Manche Geheimnisse bleiben uns verborgen, bis Gott sie offenbart. Andere mögen uns bekannt sein, aber sie übersteigen schlicht unser Verständnis – zumindest in diesem Zeitalter.

Das Buch Hiob ist das große Werk antiker Literatur, das Gott inspiriert hat, um uns zu zeigen, wie wir mit solchen Geheimnissen ringen – und wie die Wiederherstellung unserer Seele beginnt, wenn wir Gott die Frucht zurückgeben. Die Absichten hinter Hiobs Leid blieben ihm und seinen Freunden verborgen, weil sie nicht sehen und nicht wissen konnten, was im Hintergrund geschah.

Hiobs Freunde glaubten, sie hätten genug Einsicht in das Wissen um Gut und Böse, um Hiobs Leid zu erklären. Doch sie irrten sich (Hiob 42:7). Am Ende erklärte Gott Hiob nichts, sondern stellte dessen Annahme infrage, er könne Gottes Weisheit begreifen. Hiob antwortete, indem er seine Hand auf den Mund legte: „Ich habe unverständig geredet über Dinge, die zu wunderbar für mich sind und die ich nicht begreife. … Darum widerrufe ich und bereue in Staub und Asche“ (Hiob 42:3.6). Damit gab er Gott gewissermaßen die Frucht zurück.

Die Botschaft des Buches Hiob ist nicht, dass Gott es verurteilt, wenn Menschen im Schmerz ihre Verwirrung und Klage ausdrücken. Im Gegenteil: Gott, der Sohn, hat in seiner Menschwerdung am Kreuz selbst gerufen: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Matthäus 27:46). Die eigentliche Botschaft – und eine der zentralen Botschaften der ganzen Bibel – lautet: „Vertraue mir.“ Wenn Gott uns nicht sehen oder verstehen lässt, hat er barmherzige Gründe dafür.

Tatsächlich hat Gott das Evangelium und das christliche Leben so gestaltet, dass wir immer wieder die Frucht vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse zurückgeben – dass wir Gott das überlassen, was ihm gehört und was nie für den Menschen bestimmt war.

Vertraue ihm im Dunkeln

Wenn die Realität von Gut und Böse unsere Wahrnehmung übersteigt, unser Verständnis überfordert und unsere seelische Belastbarkeit bedroht, dann hat das einen Grund. Wir sind zwar „erstaunlich und wunderbar gemacht“ (Psalm 139:14), aber wir sind auch erstaunlich begrenzt. Es gibt viele Dinge, die zu wunderbar für uns sind. Der Friede Gottes, der unseren Verstand übersteigt (Philipper 4:7), steht uns zur Verfügung – wenn wir bereit sind, dem HERRN von ganzem Herzen zu vertrauen und uns nicht auf unser eigenes Verständnis zu stützen (Sprüche 3:5).

Als ich meinem Freund auf seine Nachricht antwortete – er trauerte über den tragischen Suizid seines Freundes –, versuchte ich, die Essenz dieser Wahrheiten in wenigen Sätzen zusammenzufassen. Er bat mich, mehr dazu zu schreiben. Das habe ich hiermit versucht. Angesichts verheerender Tragödien erkennen wir: Wir sind schlicht nicht dafür gemacht, die volle Last des Wissens um Gut und Böse zu tragen. Die barmherzige Wahrheit ist: Gott verlangt das auch nicht von uns. Er ruft uns, ihm zu vertrauen. Er bittet uns, ihm die Frucht zurückzugeben.


Dieser Beitrag erschien zuerst bei Desiring God. Übersetzung und Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung.
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