Zusammenfassung:
In der Geburts- und Kindheitsgeschichte von Mose gibt es starke Parallelen zu mythologischen Geschichten aus dem Alten Vorderen Orient (AVO). Neben den Parallelen werden aber vor allem die Unterschiede deutlich: Der Gott der Israeliten ist der alleinige, allmächtige und transzendente Gott. Der Mensch ist laut der Bibel ein wertvolles Geschöpf mit einer hohen Berufung. Die biblische Kindheitsgeschichte von Mose betreibt hier Polemische Theologie im großen Stile.
Moses Geburt und Kindheit (Ex 2,1-10) gehört zu den eindrücklichsten Geschichten des Alten Testaments: Mose wird als Baby im Nil ausgesetzt, weil der Pharao ihn töten will. Die Tochter des Pharaos findet ihn, zieht ihn auf und Mose wächst als Hebräer am ägyptischen Königshof auf. Anschließend führt er die Israeliten durch die spektakulären 10 Plagen aus der Sklaverei in Ägypten heraus.
In der altorientalischen Literatur gibt es zahlreiche Erzählungen von Kindern, die einer großen Gefahr ausgesetzt sind, dennoch überleben und später zu bedeutenden Herrschern oder Befreiern werden. Dieses Motiv findet sich zum Beispiel in Mesopotamien, Ägypten und Hatti. Im Folgenden will ich einige dieser Legenden aus dem AVO vorstellen und anschließend die Bezüge zur Mosegeschichte verdeutlichen. Beginnen wir mit einer Legende rund um Sargon:
Die akkadische Geburtslegende von Sargon
Sargon I. (2340-2284 v. Chr.) war der Gründer des Akkadischen Reiches in Mesopotamien und hatte eine glorreiche Herrschaft. Der genaue Zeitpunkt der Niederschrift seiner Geburtslegende ist unklar, möglicherweise entstand sie im 7. Jahrhundert v. Chr.1
Handlung der Sargonlegende:2 Die Erzählung beginnt mit einer Selbstidentifikation Sargons (Zeilen 1-3). Zur Zeit seiner Geburt bestand eine große Gefahr, sodass seine Mutter ihn heimlich zur Welt brachte, in einen Korb aus Schilfrohr legt, diesen mit Blumen abdichtete und ihn auf den Fluss Euphrat aussetzte (Zeilen 4-9). Anschließend wurde Sargon von einem Gärtner gefunden, der ihn zu sich nahm und ihn aufzog. Ischtar liebte Sargon, was als Zeichen der göttlichen Erwählung gilt (Zeilen 10-12). Sargon wurde schlussendlich der Herrscher und Befreier seines Reiches (Zeilen 13-30).
Schon der grobe Handlungsablauf lässt auf Ähnlichkeiten zwischen der Sargonlegende und der biblischen Geschichte von Mose schließen.
Die ägyptischen Mythen um Horus
Auch die Mythen rund um Horus, der ein Hauptgott in der frühen Mythologie des Alten Ägypten war, kennen die Geschichte von der Geburt des Befreiers.
Der Götter-Mythos um Horus ist in Plutarchs „Isis und Osiris“ (46-120 n. Chr.)3 ausführlich überliefert, aber ist auch schon in anderen Texten wie dem Papyrus Jumilhac aus dem 2. Jahrhundert v. Chr. zu finden. Das Motiv des „ausgesetzten Kindes“ war lange Zeit ein wichtiger Teil der ägyptischen Literatur.
Handlung:4 In dem Mythos tötet Seth aus Eifersucht seinen Bruder Osiris, der damals König in Ägypten und der Ehemann von Isis war. Isis bringt anschließend Horus auf mystische Weise zur Welt, aber Seth versucht auch ihn zu töten, da er sich vor Horus‘ Rache fürchtet. Horus wird daraufhin im Nildelta im Papyrusdickicht versteckt. Später fordert Horus seinen rechtmäßigen Platz als König Ägyptens ein und kämpft gegen Seth.
Ein Vergleich zwischen der Legende des Horus und der Geschichte von Moses Geburt in Ex 2 zeigt einige Parallelen:
Geburt des Horus | Moses Geburt |
Seth versucht, ihn zu töten. | Der Pharao versucht, ihn zu töten (Ex 1,15-22). |
Isis schützt Horus. | Jochebed schützt Mose (2,2). |
Isis versteckt Horus in einem Papyrusdickicht. | Jochebed legt Mose in einen Korb aus Papyrus und versteckt ihn im Nil (2,3). |
Nephthys, Isis‘ Schwester, beschützt Horus. | Mirjam, Moses‘ Schwester, wacht über ihn (2,4). |
Isis stillt Horus. | Jochebed stillt Mose (2,7-9). |
Der Gott Thot hilft Isis und Horus. | JHWH hilft Israel (2,23-25). |
Horus wird zur göttlichen Verkörperung im Pharao. | Mose wird zum Führer Israels. |
Im Kontext der Mosegeschichte aus dem Alten Testament ist besonders interessant, dass der Pharao als Inkarnation von Horus (und Re) angesehen wurde. Mose erlebt mit dem Pharao das, was Horus laut ägyptischer Mythologie mit dem feindlichen Gott Seth erlebt hat. Mose wird also einerseits dem Pharao gleichgestellt. Andererseits wird der Pharao aber auch mit Seth, dem bösen Verfolger identifiziert.
Hethitische Erzählungen
Auch hethitische Erzählungen kennen die Geschichte eines Kindes, das in Gefahr schwebt, und welches anschließend zum König oder Retter wird.5
In dem „Lied von Ullikummi“ (14.-13. Jh. v. Chr.) wird ein Kind versteckt und anschließend von Ischtar befreit.
Der Text „Die Sonnengottheit und die Kuh“ (mittleres 2. Jahrtausend v. Chr.) beinhaltet ebenfalls dieses Erzählmuster, allerdings mit einem sehr kuriosen Detail: Dort zeugt nämlich ein Sonnengott mit einer Kuh ein zweibeiniges Kalb. Dieses zweibeinige Kalb wird bedroht, aber anschließend gerettet.
Der Text „Die Stadt Zalpa“ (mittleres 2. Jahrtausend v. Chr.) liegt nur fragmentarisch vor, deswegen ist die vollständige Handlung nicht vorhanden. Der Mythos hat die Geburt von 30 Söhnen zum Inhalt, die ausgesetzt und im Fluss fortgeschwemmt werden. Sie werden in der Stadt Zalpa aufgenommen, die allerdings später vom Gott Kumarbi zerstört wird.
Unterschiede zwischen Moses Geburt und anderen Mythen
Es gibt unbestreitbare Zusammenhänge zwischen den Kindheitserzählungen aus dem Alten Vorderen Orient und der Geschichte von Moses Geburt in Ex 2, doch in ihrer theologischen und anthropologischen Sichtweise (also dem, was sie über Gott und den Menschen aussagen) unterscheiden sie sich stark. Mindestens in drei Themengebieten gibt es signifikante Unterschiede:
- Mythos vs. Geschichte: Während die altorientalischen Geburtserzählungen Mythen sind, bei denen ein historischer Kern kaum vorhanden sein dürfte, versteht sich das Exodusbuch in der Bibel als eine historische Narration.
- Theologie: Die altorientalischen Götter sind immanent und an die Natur gebunden. Sie sind ihren Umständen ausgesetzt, sind launisch und haben nur begrenzte Macht. Die biblische Erzählung hingegen beschreibt einen transzendenten monotheistischen Gott, der allmächtig und gut ist.
- Anthropologie: Menschen gelten in altorientalischen Mythen oft als nebensächlich oder Sklaven der Götter (außer bei Sargon). In der biblischen Tradition haben Menschen eine hohe Würde und eine besondere Berufung.
Die polemische Perspektive
Die Geschichte von Moses Geburt hat vor allem zum Horus-Mythos sehr starke Parallelen. Gleichzeitig werden in der biblischen Erzählung bestimmte ägyptische Vorstellungen herausgefordert: Zum einen wird Mose dem Pharao gleichgestellt, der als Verkörperung von Horus gilt. Zum anderen nimmt der Pharao die Rolle des Seths ein und wird so zum bösen Verfolger. Letztlich dreht die Mosegeschichte also die ägyptische Geschichte auf den Kopf: Mose steht als der Gute da, während der Pharao zum Bösen wird.

Dies zeigt, dass die biblische Erzählung nicht nur eine alternative Geschichte ist, sondern auch eine bewusste Auseinandersetzung mit altorientalischen Mythen darstellt. In Exodus 2,1-10 wird sehr bewusst polemische Theologie betrieben. Es werden bestimmte Geschichten oder Vorstellungen aus der altorientalischen Umwelt aufgegriffen und radikal mit neuer theologischer Bedeutung gefüllt. Dadurch wird nicht nur Polemik gegen die anderen Götter- und Weltvorstellungen der umliegenden Völker betrieben, sondern es wird auch die Einzigartigkeit von Jahwe betont.
Fußnoten:
- Vgl. Currid, John: Against the gods. The Polemical Theology in the Old Testament, Wheaton 2013 S.76f. ↩︎
- Vgl. Sargons Geburtslegende. In: TUAT. Ergänzungslieferung. Gütersloh 2001, S. 55–57. ↩︎
- Plutarch: Moralia. mit Englischer Übersetzung von Frank Cole Babbitt. Harvard University Press (Hrsg.). London 1936. S. 9. ↩︎
- Vgl. Currid, 80f. ↩︎
- Vgl. Currid, 82-84. ↩︎
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