Einleitung: Am Anfang war das Wort […] und das Wort war Gott.
Der Vers „Am Anfang war das Wort“ (Johannes 1:1) hat seit Jahrhunderten Theologen, Linguisten und Philosophen gleichermaßen fasziniert. Diese Aussage verbindet die Theologie der jüdischen Schöpfungsgeschichte mit hellenistischen Konzepten des Logos und wird als Schlüsseltext in der Diskussion über die Göttlichkeit Jesu Christi betrachtet. Die Debatte wird zusätzlich kompliziert durch unterschiedliche Interpretationen des griechischen Textes, insbesondere in Bezug auf die qualitative Bedeutung von „theos“ (Gott). In diesem Artikel untersuchen wir Johannes 1:1 unter besonderer Berücksichtigung der sprachlichen Präzision und theologischen Implikationen.
1. Der Text von Johannes 1:1
Im griechischen Original lautet der Vers:
Ἐν ἀρχῇ ἦν ὁ λόγος, καὶ ὁ λόγος ἦν πρὸς τὸν θεόν, καὶ θεὸς ἦν ὁ λόγος.
(En archē ēn ho logos, kai ho logos ēn pros ton theon, kai theos ēn ho logos.)
Die übliche deutsche Übersetzung lautet:
„Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott.“
Die drei Teilsätze dieses Verses sind entscheidend für die Theologie des Johannesevangeliums: Sie thematisieren die Präexistenz, die Beziehung des Logos zu Gott und seine Göttlichkeit.
2. Historischer Kontext
Johannes schrieb sein Evangelium vermutlich zwischen 90 und 110 n. Chr., in einer Zeit, in der die frühe Kirche mit theologischen Herausforderungen wie Gnostizismus konfrontiert war. Der Gnostizismus, eine dualistische Strömung, lehrte oft, dass die materielle Welt und der Schöpfergott minderwertig oder böse seien, was im Gegensatz zur biblischen Vorstellung eines guten Schöpfers stand. Johannes stellt dem gnostischen Weltbild eine radikale Botschaft entgegen: Der Logos, der Schöpfer des Universums, wurde Fleisch und lebte unter den Menschen (Johannes 1,14).
Der Begriff Logos war sowohl im jüdischen als auch im griechischen Denken von Bedeutung und verband diese unterschiedlichen kulturellen und theologischen Welten:
- Im jüdischen Kontext wird das Wort Gottes (hebräisch: „dabar“) oft als Instrument der Schöpfung und Offenbarung beschrieben. So schuf Gott in Genesis 1 durch sein Wort das Universum, und Psalm 33,6 betont: „Durch das Wort des Herrn sind die Himmel gemacht.“ In den aramäischen Targumim wurde dieser Gedanke weiterentwickelt: Die „Memra“ (aramäisch für „Wort“) repräsentiert Gottes Handeln und Präsenz in der Welt, besonders in der Schöpfung, Offenbarung und Erlösung.
- „„Das Wort des HERRN“ wurde Mose am brennenden Dornbusch offenbart (Tg. Neof. Exod 3:8; 4:1 [mg.]); „das Wort des HERRN“ rief und sprach zu Mose (Tg. Neof. Exod 3:4, 14 [mg.]; 4:2 [mg.], 6 [mg.], 11 [mg.], 21 [mg.]; Frg. Tgs. P, V Exod 3:14), und Mose verbarg sein Gesicht, weil er sich fürchtete, „die Herrlichkeit der Schechina des HERRN“ anzuschauen (Tgs. Neof. und Ps.-J. Exod 3:6; Tg. Onq. schreibt „die Herrlichkeit des HERRN“).“ (Ronning, J. (2011). The Jewish Targums and John’s Logos Theology (S. 52–53). Baker Academic.)
- In der griechischen Philosophie wurde der Logos als Prinzip der kosmischen Ordnung betrachtet. Heraklit verstand den Logos als das rationale Prinzip, das das Universum regiert, während die Stoiker ihn als universelle Vernunft sahen, die alles durchdringt und verbindet. Philo von Alexandria, ein jüdisch-hellenistischer Philosoph, kombinierte diese Konzepte und beschrieb den Logos als Vermittler zwischen dem transzendenten Gott und der materiellen Welt.
Johannes antwortet auf diese Traditionen und erklärt, dass der Logos nicht nur ein Prinzip, sondern eine Person ist: Jesus Christus.
„Gemeinschaft und Einheit sind zwei kompatible Seiten des ewigen Gottes. Johannes 1:1 bildet den Beginn der christlichen Reflexion über das Konzept der Dreieinigkeit.“ (Borchert, 1996, S. 106)
3. Linguistische Analyse von Johannes 1:1
3.1 Die griechische Syntax
Johannes 1:1 enthält mehrere sprachlich bemerkenswerte Aspekte, insbesondere die Formulierung „καὶ θεὸς ἦν ὁ λόγος“ (kai theos ēn ho logos). Laut Daniel Wallace folgt diese Konstruktion der griechischen Grammatikregel von Colwell und weist auf die qualitative Natur von „theos“ hin:
- „En archē ēn ho logos“ (Im Anfang war das Wort): Der Bezug zur Schöpfungsgeschichte in Genesis 1:1 betont die Präexistenz des Logos.
- „Kai ho logos ēn pros ton theon“ (und das Wort war bei Gott): Das griechische „pros“ impliziert eine enge Beziehung und dennoch eine Unterscheidung zwischen dem Logos und Gott.
- „Kai theos ēn ho logos“ (und das Wort war Gott): Die artikellose Verwendung von „theos“ unterstreicht die göttliche Natur des Logos, während die Wortstellung die Betonung auf die Qualität (Göttlichkeit) des Logos legt.
3.2 Qualitative Bedeutung von „theos“
Wallace erklärt in seinem Werk Greek Grammar Beyond the Basics, dass die qualitative Kraft von „theos“ hier nicht bedeutet, dass der Logos ein „einfach göttliches Wesen“ ist, sondern dass der Logos vollständig göttlich ist. Wallace schreibt:
„Johannes 1:1 betont, dass die Person Christi nicht mit der Person des Vaters identisch ist, aber ihre Essenz ist identisch. Die Konstruktion, die der Evangelist gewählt hat, war die prägnanteste Möglichkeit, zu sagen, dass das Wort Gott ist und doch nicht die Person des Vaters.“ (Greek Grammar Beyond the Basics, S. 269)
Wallace stellt klar, dass der qualitative Gebrauch von „theos“ die volle Göttlichkeit des Logos hervorhebt, ohne ihn mit dem Vater zu identifizieren.
4. Shabir Allys Fehlinterpretation
Shabir Ally, ein bekannter islamischer Gelehrter, hat versucht, Wallace‘ Analysen zu nutzen, um zu behaupten, dass Johannes 1:1 lediglich eine „göttliche Qualität“ des Logos andeutet, nicht aber seine volle Göttlichkeit. Wallace weist diese Interpretation entschieden zurück:
Wallace betont weiter, dass eine Übersetzung wie „das Wort war göttlich“ zwar grammatisch möglich wäre, aber die moderne Verwendung des Begriffs „göttlich“ oft missverstanden werde. Eine solche Formulierung könnte fälschlicherweise suggerieren, dass der Logos weniger als voll göttlich ist.
5. Theologische Implikationen
5.1 Präexistenz des Logos
Johannes 1:1 zeigt, dass der Logos vor der Schöpfung existierte („Im Anfang war das Wort“). Dies widerspricht jeder Vorstellung, dass Jesus Christus ein geschaffenes Wesen ist, wie es im Arianismus oder in den Lehren der Zeugen Jehovas behauptet wird.
5.2 Beziehung zwischen Logos und Gott
Die Aussage „und das Wort war bei Gott“ hebt die Trinitätslehre hervor, indem sie die enge Beziehung zwischen dem Vater und dem Logos beschreibt, ohne sie zu verwechseln.
5.3 Göttlichkeit des Logos
Die Formulierung „und das Wort war Gott“ unterstützt die Lehre von der vollen Göttlichkeit Jesu Christi. Wallace erklärt hierzu:
„Die Wortstellung in Johannes 1:1 ist ein klares Bekenntnis zur Trinitätslehre. Johannes drückt die volle Göttlichkeit Christi aus, während er eine Verwechslung mit der Person des Vaters vermeidet.“ (Greek Grammar Beyond the Basics, S. 269)
6. Exegetische Kontroversen
6.1 Übersetzung der Zeugen Jehovas
Die Neue-Welt-Übersetzung rendert den Vers mit „und das Wort war ein Gott“. Wallace und andere Linguisten kritisieren dies scharf, da es die qualitative Bedeutung von „theos“ missachtet und polytheistische Implikationen hat.
6.2 Alternative Übersetzungen
Einige Übersetzungen, wie die von James Moffatt („und das Wort war göttlich“), werden als weniger präzise angesehen, da sie die volle Göttlichkeit des Logos nicht eindeutig genug ausdrücken.
7. Fazit
Johannes 1:1 ist ein zentraler Vers, der die präexistente Göttlichkeit und Beziehung Jesu Christi zum Vater beschreibt. Die linguistische Präzision und die theologische Tiefe dieses Verses werden durch Daniel Wallaces Analysen klar hervorgehoben. Shabir Allys Fehlinterpretation zeigt die Bedeutung einer korrekten exegetischen Herangehensweise, die den Kontext und die grammatische Struktur berücksichtigt. Johannes 1:1 bleibt eine der kraftvollsten Aussagen über die Natur Jesu Christi und eine Grundlage der christlichen Theologie.
Literaturverweise
- Wallace, Daniel B. Greek Grammar Beyond the Basics. Grand Rapids: Zondervan, 1996.
- Borchert, G. L. (1996). John 1–11 (Bd. 25A, S. 102–106). Broadman & Holman Publishers.
- Ronning, J. (2011). The Jewish Targums and John’s Logos Theology (S. 64). Baker Academic.
- Aland, K., Aland, B., Karavidopoulos, J., Martini, C. M., & Metzger, B. M. (2012). Novum Testamentum Graece (28th Edition, Joh 1,1–3). Deutsche Bibelgesellschaft.
- Leedy, R. A. (2020). SBL Greek New Testament Sentence Diagrams. Faithlife.
- Interview mit Dan Wallace: From Islam to Christ. (2021b, Oktober 14). Shabir Ally caught LYING about John1:1 and Daniel Wallace [Video]. YouTube. https://www.youtube.com/watch?v=B9bxpmUWO6E
Markus Buller ist Prediger in seiner Kirchengemeinde und begeistert sich für Apologetik, die Entstehung des Christentums sowie grundlegende Lebensfragen. Sein Herz schlägt für die christliche Mission und den friedlichen Dialog mit Menschen anderer Glaubensrichtungen. Er absolvierte den Studiengang „Staatlicher Verwaltungsdienst – Allgemeine Verwaltung (Bachelor of Laws)“ an der HSPV NRW und arbeitet als Oberinspektor in der Behörde.