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Der Urtext der Bibel

Die Grundlage für eine Bibelübersetzung bildet der hebräische und griechische Urtext bzw. Grundtext. Der Unterschied zwischen Urtext und Grundtext besteht darin, dass der „Urtext“ die erste Niederschrift des Bibeltextes meint (diesen Text haben wir heute nicht mehr), während der „Grundtext“ die Rekonstruktion des biblischen Urtextes bezeichnet (den haben wir). Wissenschaftlich korrekter ist es daher vom „Grundtext“ zu sprechen. Aber diese Unterscheidung ist nicht so zentral. Wichtiger ist die Frage, wie genau mithilfe der Textkritik der Grundtext des Alten und des Neuen Testaments rekonstruiert wird.

1. Was ist Textkritik?

Ein anderes Wort für „Textkritik“ ist „Textbestimmung“. Es geht bei der Textkritik nicht um sachliche Kritik am Inhalt des biblischen Textes, sondern darum, die ursprüngliche Variante des Bibeltextes zu bestimmen. Die hohe Quantität an Manuskripten erfordert es, dass man die Manuskripte jeweils qualitativ bewertet, um möglichst nah an den Urtext zu gelangen. Die Methoden der alttestamentlichen Textkritik unterscheiden sich enorm von den Methoden neutestamentlicher Textkritik.

2. Der hebräische Urtext: Altes Testament

Das früheste Zeugnis für die hebräische Bibel ist die Septuaginta (LXX), eine Übersetzung in die griechische Sprache. Die Septuaginta ist allerdings nur ein „indirekter“ Zeuge und deswegen für eine Rekonstruktion des hebräischen Textes unbrauchbar. Der hebräische Grundtext – auch „masoretischer Text“ genannt – basiert daher auf den frühesten „direkten“ vollständigen Handschriften, die wir haben, das sind die Handschriften der Masoreten. Die Masoreten waren jüdische Abschreiber der hebräischen Bibel, die ab dem 8. Jh. n. Chr. wirkten. Wie aber kam es zum masoretischen Text?

a) Herkunft des masoretischen Textes

Der Kanon des Alten Testament bildete sich ab 200 v. Chr. bereits heraus. Das zeigt sich besonders gut an verschiedenen Kanonlisten

  • Um 190 v. Chr.: in Jesus Sirach (Sir 38,34-39,1) wird die hebräische Bibel mit „Gesetz, Weisheit und Weissagungen“ zusammengefasst.
  • Um 117 v. Chr.: im Prolog von Jesus Sirach (vom Enkel Jesus Sirachs geschrieben) wird die Trias „Gesetz, Propheten und übrige Bücher“ genannt.
  • 120 v. Chr.: eine Qumranschrift (4QMMT C 17) spricht von „Buch des Mose, Bücher der Propheten, Psalmen Davids“.
  • 70 n. Chr.: im Lukasevangelium (Lk 24,44) wird ebenfalls von „Gesetz des Mose, Propheten und Psalmen“.
  • Frühestens im 2. Jh. n. Chr. stand der alttestamentliche Kanon fest.

Ab 70 n. Chr. (Zerstörung des Tempels) bis zum 8. Jh. spricht man von der „prämasoretischen Textsicherung“. In dieser Phase kam es zu einer Vereinheitlichung des hebräischen Textes. Die jüdischen Gelehrten dieser Zeit legten besondere Betonung auf die mündliche Thora. Es entstand beispielsweise der Talmud, der aus der Mischna und der Gemara besteht.

Die Masoreten (ab 700-1000 n. Chr.) legten wiederum eine große Betonung auf die Sicherung des Textbestandes und waren akribische Abschreiber der hebräischen Bibel. Unter ihnen wurde auch die Punktation (also die Vokalisierung der hebräischen Sprache) fixiert. Ihre Arbeit ist bis heute die Grundlage der alttestamentlichen Textkritik.

b) Die derzeitigen hebräischen Ausgaben und das „masoretische Problem“

Die ältesten und wichtigsten masoretischen Handschriften sind:

  • Der Propheten-Kodex aus Kairo (Abkürzung: C, MC). Dieser Kodex ist von 896 n. Chr. und beinhaltet die Bücher Deuteronomium, Josua, Richter, Samuel und Könige.
  • Der Kodex Aleppo (MA). Dieser Kodex ist aus dem Jahr 925 n. Chr., es fehlen allerdings ¾ des Textbestandes wegen eines Brandes im Jahr 1947.
  • Der Kodex Petropolitanus oder Kodex Leningradensis (L, ML) von 1008/1009 n. Chr. Dieser Kodex ist vollständig.
Kodex Aleppo, Bibeltext: Jos 12.

Die wichtigste derzeitige Ausgabe des hebräischen Grundtexts, die „BHS“ (Biblia Hebraica Stuttgartensia) von 1967-77, basiert primär auf dem Kodex Petropolitanus (L, ML) und zieht an entscheidenden Stellen die Qumran-Varianten heran. Zu den Qumran-Funden unten noch mehr.

Das sogenannte „masoretische Problem“ besteht nun darin, dass die ältesten Handschriften, die für den hebräischen Grundtext genutzt werden, mindestens 1000 Jahre älter sind als die biblischen Schriften selbst. Zwar waren die Masoreten sehr genaue Abschreiber, aber dennoch kann man eine relative Verfälschung des hebräischen Grundtextes nicht ausschließen.

c) Neue Erkenntnisse durch Qumran

Die Qumran-Funde aus dem letzten Jahrhundert können für die Bedeutung der alttestamentlichen Textkritik nur unterschätzt werden. Mit ihnen kamen Bibelwissenschaftler plötzlich über 1000 Jahre näher an die ursprünglichen Texte heran und bekamen Einblicke in die Textfixierung selbst. Die Qumran-Rollen werden auf die Zeit 300-70 v. Chr. datiert. Von den 800 entdeckten Handschriften beinhalten ca. 200 biblische Texte. Sie sind in hebräischer, aramäischer und griechischer Sprache verfasst. Die Qumran-Funde zeigen außerdem, dass es bis zu den Masoreten – etwa 1000 Jahre später – nur geringfügige Veränderungen des Bibeltextes gab.

Siehe auch  Wofür sollst du beten?
Qumran-Höhlen.

3. Der griechische Urtext: Neues Testament

a) Die Methode

Die neutestamentliche Textkritik verfährt nach ganz anderen Methoden als die alttestamentliche Textkritik. Während im Alten Testament ein Text als fortlaufende Grundlage genommen wird (meist der Kodex Petropolitanus), geht man im Neuen Testament „eklektisch“ (gr.: „das Beste auswählen“) vor. Das heißt, dass aus der Fülle der Textvarianten in den Manuskripten die ursprünglichste Variante ausgewählt wird. So wird ein griechischer Grundtext rekonstruiert, der aus tausenden von Manuskripten zusammengefügt wurde und dem Urtext sehr nahekommt. Insgesamt gibt es über 5000 griechische Manuskripte, ca. 10.000 lateinische Manuskripte und ebenso viele Manuskripte in anderen Sprachen und Dialekten. Kein anderes antikes Buch ist so gut bezeugt wie das neue Testament.

b) Die neutestamentlichen Manuskripte

Es gibt unterschiedliche Handschriften, die im eklektischen Verfahren berücksichtigt werden: Papyri, Majuskeln, Minuskeln, Lektionare, Übersetzungen, Kirchenväter und der Mehrheitstext.

Papyri

Papyri sind die ältesten Manuskripte für das Neue Testament. Papyrus war ein Schreibmaterial, das aus dem getrockneten Mark von Papierstauden gewonnen und zu Blättern verarbeitet wurde. Papyri werden mit einem stilisierten „P“ (𝔓) und einer hochgestellten Zahl angegeben, also beispielsweise „𝔓46“. Diese Papyri sind meistens Fragmente und beinhalten teilweise nur sehr kleine Abschnitte des Neuen Testaments. Beispielsweise beinhaltet der älteste Papyrus von 125 n. Chr. (𝔓52) nur 5 Verse aus dem Johannesevangelium (Joh 18,31-33.37f.). Stand 2021 sind 141 Papyri bekannt.

𝔓52 wird auf 125 n. Chr. datiert.

Zwei wichtige Papyri-Gruppen sind:

  • Chester-Beatty-Papyri: 𝔓45, 𝔓46, 𝔓47. Diese Papyri werden alle auf 200-300 n. Chr. datiert und beinhalten fast das gesamte Neue Testament.
  • Bodmer-Papyri: 𝔓66, 𝔓72, 𝔓74, 𝔓75. Auch diese Papyri werden auf 200 n. Chr. und jünger datiert.
Majuskeln

Majuskeln sind Handschriften aus dem 3.-9. Jh., die ausschließlich in griechischen Großbuchstaben verfasst wurden. Majuskeln sind vornehmlich auf Pergament – also auf Tierhäuten – verfasst. Auch hier liegen die meisten Manuskripte fragmentarisch vor. Majuskeln werden wie folgt angegeben: hebräischer/lateinischer/griechischer Großbuchstabe (z.B. א, A, Δ) oder eine „0“ mit einer Zahl, also z.B.: א 01 oder 0162. Für die neutestamentliche Textkritik sind vor allem die Bibelhandschriften (s.u.) von enormer Bedeutung. Wichtige Majuskeln sind:

  1. 0162, 0172, 0212, 0220. Diese Majuskeln gehören zu den frühesten Majuskeln (2.-3. Jh.), sind aber nur Fragmente.
  2. Bibelhandschriften (AT + NT):
    • Der Kodex Sinaiticus (א 01) aus dem 4. Jh. beinhaltet das gesamte Neue Testament.
    • Dem Kodex Alexandrinus (A 02) aus dem 5. Jh. fehlen nur kleine Teile des Neuen Testaments.
    • Der Kodex Vaticanus (B 03) wird auf das 4. Jh. datiert und beinhaltet das gesamte Neue Testament bis einschließlich Heb 9,14a.
Kodex Sinaiticus, Ende des JohEv.
Minuskeln

Minuskeln etablierten sich ab dem 9. Jh. n. Chr. und sind in griechischen Kleinbuchstaben verfasst. Sie werden mit Zahlen ohne „0“ am Anfang angegeben. Zwei wichtige Minuskeln sind folgende:

  • 461. Diese Evangelienhandschrift aus dem Jahr 835 n. Chr. ist die älteste Minuskel.
  • 33. Diese Minuskel aus dem 9. Jh. n. Chr. beinhaltet beinahe das gesamte Neue Testament.
Lektionare

Lektionare sind jene Handschriften, die im Gottesdienst verwendet wurden. Sie haben eine andere Anordnung des neutestamentlichen Textes, weil sie sich nach der Perikopenordnung der Kirche richten. Ihr Wert für die Textkritik ist eher gering. Ausnahmen sind hier l 844, l 2211 für die Evangelien und l 249 und l 846 für die Paulusbriefe.

Übersetzungen

Es gibt bereits sehr frühe Übersetzungen des Neuen Testaments, nämlich ab 180 n. Chr. Für die Textkritik kommen hier allerdings nur die Übersetzungen in Betracht, die auf der Basis des griechischen Textes übersetzt wurden. Wichtige Übersetzungen sind:

  • Altlateinische Handschriften (it, vg, lat(t))
  • Syrische Handschriften (sy)
  • Koptische Handschriften (co, bo, sa, mae)
Kirchenväter

Kirchenväter haben in ihren Schriften oft das Neue Testament zitiert. Das Problem der neutestamentlichen Textkritik mit den Kirchenvätern ist, dass kritische Editionen oft noch ausstehen. Man kann zudem nicht immer unterscheiden, ob ein Kirchenvater den griechischen Text wörtlich oder nur nach dem ungefähren Wortlaut zitiert.

Siehe auch  Welche Bibelübersetzung ist die richtige?
Mehrheitstext (𝔪)

Der Mehrheitstext (𝔪) versammelt zwar die Mehrheit der neutestamentlichen Handschriften, ist aber eher unwichtig, da diese Handschriften nach der „Konstantinischen Wende“ in Massenproduktion für den kirchlichen Gebrauch angefertigt wurden und sehr vereinheitlicht sind. Die Handschriften des 𝔪 werden deswegen nur als eine Stimme angesehen auch wenn es insgesamt tausende von Manuskripten sind.

c) Kriterien für die Bewertung der neutestamentlichen Manuskripte

Es gibt keine zwei Handschriften des Neuen Testaments, die exakt gleich sind. Wie geht man nun mit diesen Unterschieden um? Woher weiß man, welche Handschrift besser ist als eine andere? Die Textkritik unterscheidet zwischen externer Beweislast und interner Beweislast.

Externe Beweislast

Bei der externen Beweislast werden äußere Kriterien bewertet. Die Datierung des Manuskriptes ist hier vor allem wichtig. Es gilt die Grundregel: „Je früher, desto besser.“ Auch die geografische Verbreitung spielt eine Rolle. Hier gilt die Grundregel: „Je größer die Verbreitung, desto besser.“

Grundsätzlich zählt die Qualität der Manuskripte, nicht die Quantität. Manuskripte werden abgewogen, nicht gezählt! Eine alte Handschrift ist beispielsweise bedeutsamer als 100 junge Handschriften.

Interne Beweislast

Die interne Beweislast sucht nach Gründen im Text selbst, die eine unterschiedliche Lesart erklären. Das Hauptkriterium lautet: Der Text, der die Entstehung des anderen besser erklärt, ist ursprünglicher. Untersucht werden hier Textumfang, Textstruktur und Textsubstanz.

Textumfang. Die textkritische Regel ist: „Die kürzere Lesart ist besser.“ Hinter dieser Regel steht der Gedanke, dass es grundsätzlicher einfacher ist, einen Text im Nachhinein zu erweitern als zu kürzen.

Textstruktur. Die Regel ist: „Die chaotischere Lesart ist besser.“ Hier ist der Gedanke, dass der stilistisch gefeilte Text stärker überarbeitet wurde als der „chaotischere“ Text.

Textsubstanz. Die Regel lautet hier: „Die schwierigere Lesart ist besser.“ Hier geht es um inhaltliche Fragen. Hinter der Regel steht die Überlegung, dass inhaltliche Ungereimtheiten bei einer nachträglichen Überarbeitung eher ausgeräumt werden, als dass sie hinzugefügt werden.

Diese drei internen Kriterien helfen dabei, den Text zu bestimmen, der die Entstehung des anderen besser erklärt und damit ursprünglicher ist.

5. Fazit

Die Textkritik geht im Alten und Neuen Testament sehr unterschiedlich vor. Während für das Alte Testament der „masoretische Text“ als Grundlage gewählt wird, gibt es für das Neue Testament die Konstruktion einer wissenschaftlich korrigierten Textform. Mithilfe der Textkritik kann sowohl für das Alte Testament als auch für das Neue Testament ein verlässlicher Grundtext rekonstruiert werden. Dieser Grundtext bildet dann die Grundlage für alle Übersetzungen in andere Sprachen. Die deutsche Elberfelder-Übersetzung kommt dem griechischen und hebräischen Text am nächsten. Sie orientiert sich stark an der Ausgangssprache und hat eine hohe Konkordanz, das heißt, sie übersetzt dasselbe Wort der Ausgangssprache auch bei jedem Vorkommen in der Bibel immer gleich. Der Nachteil einer wörtlichen Übersetzung ist die mangelnde Verständlichkeit.

Inwiefern die Bibel in ihrer Gesamtheit vertrauenswürdig ist, wird in diesem Artikel beleuchtet.

Textquellen:

  • Fabry, Heinz-Josef, Der Text und seine Grundlagen, in: Einleitung in das Alte Testament, 5. Aufl., Stuttgart 2004.
  • Finnern, Sönke/Rüggemeiner, Jan, Methoden der neutestamentlichen Exegese. Ein Lehr- und Arbeitsbuch, Tübingen 2016.
  • Köhlmoos, Melanie, Altes Testament, Tübingen 2011.
  • Nestle-Aland, Novum Testamentum Graece, 28. Aufl., Stuttgart 2012.
  • Omanson, Roger, A Textual Guide to the Greek New Testament, Stuttgart 2016.
  • Schäfer, Rolf/Voss, Florian, Biblische Textforschung. Eine Einführung in die wissenschaftlichen Ausgaben der Deutschen Bibelgesellschaft, Stuttgart 2008.

Bildquellen:

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