Die Zehn Gebote und der Neue Bund

Zehn Gebote, Bund

Wenn die meisten Christen gefragt würden, ob sie die Zehn Gebote halten sollten, würden sie antworten: „Natürlich!“

Grundsätzlich ist diese Antwort richtig und spiegelt die Lehrmeinung wider, die über die Jahrhunderte hinweg von der frühen Kirche bis heute weitergegeben wurde. Dennoch ist die Frage komplexer, als sie auf den ersten Blick erscheint. Wie bereits der Untertitel dieses Artikels andeutet, müssen die Zehn Gebote (im Hebräischen wörtlich „die Zehn Worte“) im Licht des Bundes verstanden werden, in dem sie gegeben wurden. Die Zehn Gebote müssen im Kontext gelesen werden – und das bedeutet, sie müssen in einem bündnistheologischen Zusammenhang verstanden werden.

Gottes Bund mit seinem Volk

Die Zehn Gebote wurden Israel am Berg Sinai gegeben (2. Mose 20,1–17), als Jahwe einen Bund mit dem Volk Israel schloss, nachdem er sie aus Ägypten befreit hatte. Diese Gebote wurden in 5. Mose 5 erneut wiederholt, bevor Israel das verheißene Land betrat.

Die Zehn Worte wurden Israel in einem Kontext der Gnade gegeben, denn Jahwe hatte sie „auf Adlerflügeln“ getragen und aus der Knechtschaft in Ägypten befreit (2. Mose 19,4; 20,2). Zuerst kam die Gnade, dann die Gebote – und diese Gebote waren keine Leiter, um eine Beziehung mit dem Herrn zu begründen, sondern ein Ausdruck ihrer Hingabe an Jahwe als Antwort auf seine wunderbare Liebe.

Wenn wir bestimmte Texte in der Heiligen Schrift lesen, müssen wir sie immer im Licht der gesamten Erlösungsgeschichte betrachten. Diese fortschreitende Geschichte zeigt, wie Gott nach und nach sein Wesen, seine Wege und seinen Willen seinem Volk offenbart. Die fortschreitende Natur der Offenbarung wird oft mit einer Eichel und einer Eiche verglichen: Am Anfang steht die Eichel, die schließlich zu einem mächtigen Baum heranwächst. Dieses Bild ist hilfreich, weil es die organische Verbindung zwischen den verschiedenen Bünden verdeutlicht.

Gelehrte sind uneinig darüber, wie viele große Bünde es in der Schrift gibt, doch es gibt gute Gründe für folgende Bünde: den Schöpfungsbund, den Bund mit Noah, den Bund mit Abraham, den Bund mit Israel (mosaischer Bund), den Bund mit David und den neuen Bund.

Zwischen diesen Bünden besteht eine organische Verbindung, doch daraus folgt nicht, dass alle Bünde identisch sind oder dass in jedem Bund dieselben Gebote gelten. Während die Erlösungsgeschichte fortschreitet, erkennen wir sowohl Kontinuität als auch Diskontinuität zwischen den Bünden. Es ist nicht leicht, genau zu bestimmen, wo Kontinuität und Diskontinuität liegen, und das erklärt, warum gläubige Christen, die Gottes Wort lieben, unterschiedliche Auffassungen darüber haben, wie die Bibel „zusammengefügt“ werden sollte. Deshalb gibt es Dispensationalisten, Bundestheologen und progressive Bundestheologen – einige von ihnen sind Baptisten oder Presbyterianer, andere Lutheraner oder Mennoniten.

Das Kommen des Neuen Bundes

Um zur Ausgangsfrage zurückzukehren: Die Zehn Worte gehören zum Bundesverhältnis, das Gott mit Israel geschlossen hat. Doch der Bund, den Gott mit Israel am Berg Sinai einging, ist der alte Bund. Jeremia verkündet, dass Gott „einen neuen Bund“ mit seinem Volk schließen wird (Jeremia 31,31), und dieser wird „nicht wie der Bund sein, den ich mit ihren Vätern geschlossen habe“ (Jeremia 31,32). Der Herr wird sein Gesetz in die Herzen seines Volkes schreiben und ihre Sünden vergeben (Jeremia 31,33–34). In Hesekiel verheißt der Herr, dass er seinen Geist in sein Volk legen wird, sodass sie seine Ordnungen halten werden (Hesekiel 36,26–27).

Jesus setzte den neuen Bund durch seinen Tod und seine Auferstehung ein (Lukas 22,20; 1. Korinther 11,25), und Paulus bezeichnet sich selbst als Diener des „neuen Bundes“ (2. Korinther 3,6). Das Kommen des neuen Bundes bedeutet, dass Gläubige nicht mehr „unter dem alten Bund“ stehen (2. Korinther 3,14).

Der alte Bund wurde mit Israel als Volk geschlossen, und Israel war eine Theokratie – eine Art Staatskirche, in der der Herr über sein Volk herrschte. Es war sowohl eine zivile als auch eine religiöse Einheit. Im neuen Bund ist das Volk des Herrn nicht mehr auf Israel beschränkt, sondern in Erfüllung der Verheißung an Abraham sind nun alle Völker eingeschlossen (1. Mose 12,3). Im neuen Bund gehören Menschen aus „jedem Stamm und jeder Sprache und jedem Volk und jeder Nation“ (Offenbarung 5,9) zum Haus Gottes (Epheser 2,19). Die Gemeinde ist nicht mit einer bestimmten Nation identifiziert, sondern besteht aus Menschen aller Nationen.

Der Alte Bund als Wächter

Zusammenfassend bedeutet die Einsetzung des neuen Bundes, dass der alte Bund vergangen ist. Hebräer 8,13 macht dies unmissverständlich klar: „Indem er von einem neuen Bund spricht, hat er den ersten für veraltet erklärt.“ Paulus lehrt dieselbe Wahrheit im Galaterbrief. Die Galater müssen sich nicht beschneiden lassen, weil sie nicht mehr unter dem alten Bund stehen und daher dessen Vorschriften nicht mehr für sie gelten.

Die Verheißung und der Bund mit Abraham waren grundlegend, während das Gesetz, das Israel gegeben wurde, ein untergeordneter und vorübergehender Bund war, der nie dazu bestimmt war, ewig zu gelten (Galater 3,15–18). Das Gesetz, das den Bund mit Israel repräsentierte, galt nur bis zum Kommen des verheißenen Nachkommens – Jesus Christus (Galater 3,19).

Dieser Gesetzesbund war unser „Zuchtmeister“, unser Erzieher, unser Wächter bis zum Kommen Christi (Galater 3,24). Doch „nachdem aber der Glaube gekommen ist, sind wir nicht mehr unter dem Zuchtmeister“ (Galater 3,25). Das Gesetz, das integraler Bestandteil des Bundes mit Israel war, ist mit seinen Geboten und Vorschriften vergangen (Epheser 2,15). Gläubige sind dem Gesetz gestorben, weil sie mit Christus gestorben sind (Römer 7,4).

Da Gläubige nicht unter dem alten Bund stehen, sind sie auch nicht mehr an dessen Vorschriften gebunden. Sie müssen ihre Kinder nicht beschneiden lassen, um zum Volk Gottes zu gehören (3. Mose 12,3). Der Tempeldienst und die Tieropfer sind überholt – nicht nur, weil der Tempel nicht mehr existiert, sondern weil Christus der wahre Tempel ist und zugleich das endgültige und vollkommene Opfer (wie Hebräer 9–10 lehrt). Gläubige dürfen keine Tieropfer darbringen, denn dies würde die abschließende und endgültige Sühne durch Christus verleugnen. Ebenso sind sie nicht verpflichtet, die Speisegebote des Alten Testaments (3. Mose 11; 5. Mose 14) oder die alttestamentlichen Feste (wie das Passahfest) zu halten, da diese Bestimmungen zum Bund mit Israel gehörten.

Sind die „moralischen Gesetze“ hinfällig?

Einige mögen dem bisher Gesagten zustimmen und gleichzeitig anmerken, dass sich alle genannten Beispiele auf das Zeremonialgesetz beziehen. Sie könnten einwenden, dass die Zehn Gebote eine Ausnahme darstellen, da sie zum moralischen Gesetz gehören und moralische Normen überzeitlich sind. Meine Antwort darauf lautet sowohl „ja“ als auch „nein“.

Zunächst zum „nein“: Hier zeigt sich, dass die Frage komplex ist. Der Bund mit Israel ist eine Einheit. Wir dürfen und können die Gebote dieses Bundes nicht von dem Bund selbst trennen. Das Ende des alten Bundes bedeutet auch das Ende der Gebote, die zu diesem Bund gehören! Insofern sind die Zehn Gebote in ihrem ursprünglichen Kontext nicht mehr bindend, weil sie Teil eines Bundes waren, der nicht mehr in Kraft ist.

Dennoch folgt daraus nicht, dass die Zehn Gebote für Gläubige keine Autorität mehr besitzen. Wir erkennen Gottes Willen und seine moralischen Maßstäbe aus dem gesamten Handlungsstrang der Bibel, der im neuen Bund und im Kommen Christi seinen Höhepunkt findet. Wenn wir die gesamte Offenbarung Gottes betrachten, sehen wir, dass nicht das mosaische Gesetz, sondern das Gesetz Christi unsere Autorität ist (Galater 6,2; 1. Korinther 9,21).

Es fehlt hier der Raum, um das Gesetz Christi im Detail zu erörtern, aber Stephen Wellum hat dazu einen ausgezeichneten Artikel verfasst. Das Gesetz Christi wird durch eine bündnistheologische Lesung der Schrift erkannt – indem wir auf seine Erfüllung in Christus achten und die ethischen Normen des Neuen Testaments betrachten. Das Herzstück des Gesetzes Christi ist die Liebe zueinander (Johannes 13,34–35). Das Gesetz Christi übertritt niemals moralische Normen, aber Liebe umfasst mehr als nur die Einhaltung moralischer Gebote.

Was ist mit dem Sabbat?

Nun kommen wir zum entscheidenden Punkt der Argumentation. Wir wissen, dass neun der Zehn Gebote im neuen Bund, im Neuen Testament, wiederholt werden.

Diese Gebote gelten nicht deshalb weiterhin, weil sie Teil der Zehn Gebote sind – denn diese waren Teil des Bundes mit Israel, der vergangen ist. Vielmehr sind diese neun Gebote verbindlich, weil sie den Willen Gottes ausdrücken, weil sie überzeitliche moralische Normen beinhalten. Wir wissen, dass sie für uns heute gelten, weil sie im Neuen Testament erneut bestätigt werden. Der tiefere Grund für ihre allgemeine Gültigkeit liegt darin, dass sie Gottes Charakter widerspiegeln.

Das eine Gebot, über das Uneinigkeit besteht, ist natürlich der Sabbat. Aufrichtige Christen haben unterschiedliche Ansichten über seinen Status. Wenn wir die Bibel lesen, stellen wir fest, dass bereits die frühe Kirche über den Sabbat uneins war (Römer 14,5). Paulus jedoch zählt den Sabbat zusammen mit den alttestamentlichen Opfern zu den Schatten, während die eigentliche Wirklichkeit in Christus zu finden ist (Kolosser 2,16–17). Christus selbst ist unsere wahre Sabbatruhe (Matthäus 11,28–30) und weist auf die endgültige Ruhe hin, die uns noch bevorsteht (Hebräer 4,1–11).

Sind die Zehn Gebote für uns?

Sind die Zehn Gebote also für Christen verbindlich?

Es ist nicht falsch zu sagen, dass neun der Zehn Gebote Gottes Wille für uns sind, da sie moralische Normen enthalten. Doch wir erkennen diesen Willen Gottes nicht einfach isoliert an den Zehn Geboten selbst, sondern indem wir die gesamte bündnistheologische Erzählung der Schrift betrachten und sie in ihren richtigen bündnistheologischen Kontext einordnen. Als Christen können wir nicht einfach die Zehn Gebote aus ihrem alttestamentlichen Bündniskontext herauslösen und sie für uns heute als verpflichtend erklären.

Um es klarzustellen: Die hier dargestellte Sicht der Zehn Gebote ist nicht antinomistisch (gesetzesfeindlich), sondern spiegelt eine bündnistheologische Lesart des Alten und Neuen Testaments wider. Tatsächlich sind sich Theologen – auch wenn sie auf unterschiedlichen Wegen zu diesem Schluss kommen – weitgehend einig, dass neun der Zehn Gebote den Willen Gottes für Gläubige heute widerspiegeln. Was jedoch den Sabbat betrifft, gelten für uns die Worte des Paulus: „Jeder aber sei seiner Meinung gewiss“ (Römer 14,5). Doch wenn es darum geht, Gott mit ganzem Herzen zu lieben, unseren Nächsten wie uns selbst und einander, wie Christus uns geliebt hat, lasst uns in dieser Hinsicht eines Sinnes sein.


Dieser Beitrag erschien zuerst bei Desiring God. Übersetzung und Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung.
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