Vorab: Dies ist der ausführliche Artikel zum Thema „Gewalt in der Bibel“. Die gekürzte Fassung zum Aspekt „Gewalt Gottes im Alten Testament“ findet sich hier.
Einleitung
Einer der beliebtesten Angriffspunkte von Kritikern des christlichen Glaubens ist die Komponente der Gewalt sowohl in der Bibel als auch in der Kirchengeschichte. Der Gott des Alten Testamentes – und teilweise des Neuen Testaments – sei ein gewalttätiges, rachsüchtiges Wesen, das seinen Zorn an den Menschen herauslassen würde, während die Christen schon immer ihre Feinde unterjocht und zwangsbekehrt hätten. Um herauszufinden, wie viel an diesen (vielleicht überspitzten) Behauptungen dran ist, ist die nähere, systematische Betrachtung der Bibel unumgänglich, die für Christen die maßgebliche und somit auch verbindliche Gottesoffenbarung darstellt.
Zuerst einmal muss festgehalten werden, dass zwei Akteure in der Bibel Gewalt ausüben: zum einen der Mensch und zum anderen Gott. Nun ließe sich ein zu weites Themengebiet aufmachen, indem man z.B. biblische Aussagen über die Gewalt Gottes über die Natur herausarbeitet, wie es beispielhaft in Psalm 104,6f dargestellt wird. Das soll jedoch ausdrücklich nicht Thema dieses Artikels sein. Ebenso wenig soll hier das Gesetz für Israel behandelt werden, wo auch Strafanordnungen in Form von Gewalt enthalten sind. Es geht hier zuerst einmal um die beiden relevantesten, sensibelsten und vielleicht teilweise irritierendsten Bereiche von Gewaltausübung, die in der Bibel thematisiert werden: 1. Die Gewaltausübung von Menschen an anderen Menschen und 2. die Gewaltausübung von Gott an Menschen. Außerdem soll es 3. um das zentrale Ereignis der biblischen Erzählung gehen: Der Gewaltanwendung Gottes gegenüber sich selbst.
Um die biblischen Aussagen zum Thema Gewalt besser zu verstehen, müssen wir uns zuerst eine wesentliche Grundaussage der Bibel vergegenwärtigen: Das Verhältnis von Mensch und Gott, den beiden Gewaltakteuren.
1. Verhältnis von Mensch und Gott
In Psalm 36,10 heißt es, dass bei Gott die Quelle des Lebens ist und der Mensch durch Gottes Licht das Licht erkennen kann, also Erkenntnis über Gott und das Leben gewinnen kann. Es macht folglich einen Unterschied für unser Gottes- und Menschenbild, ob wir anfangen, über Gott nachzudenken oder damit, über den Menschen nachzusinnen. Um zu verdeutlichen, was damit gemeint ist, nehme ich an dieser Stelle schonmal einen Teilaspekt dieses Kapitels vorweg. Wenn wir als Menschen zuerst uns selbst betrachten und feststellen, dass wir irgendwann dem Tod unaufhaltsam ausgeliefert sind, könnten wir davon auf Gott schließen, dass er auch einmal sterben muss. Im umgekehrten Fall, wenn wir also z.B. durch die Lektüre der Bibel anfangen zu glauben, dass Gott ewig und somit unsterblich ist, lässt es uns vielleicht hoffen, dass wir dem Tod doch nicht so ausgeliefert sind wie im ersten Fall.

Die griechischen und römischen Götter der Antike sind ein gutes Beispiel dafür, wie Götterbilder von menschlichen Eigenschaften geprägt sind. Zwar sind diese Götter unsterblich und mit außergewöhnlichen Fähigkeiten begabt, lassen sich aber sonst auf alle möglichen Streitereien und sexuellen Eskapaden untereinander und mit Menschen ein. Wegen diesen Ausführungen wollen wir uns zuerst darauf konzentrieren, was die Bibel über Gott und sein Wesen sagt.
Gott steht laut der Bibel ideell und zeitlich vor allem, er ist die Kraft, welche Raum, Zeit und Materie hervorgebracht hat. Somit ist er Schöpfer aller Dinge, der das Leben generell erst ermöglicht (vgl. 1. Mose 1-2,4; 1. Korinther 8,6). Weiterhin erhält er die Schöpfung bzw. das Leben, er sorgt also dafür, dass alles seinen mehr oder weniger gewohnten Gang nehmen kann (vgl. Apostelgeschichte 17,28; Kolosser 1,17). Darüber hinaus greift er selbst in die Geschichte seiner Schöpfung durch Wundertaten ein (vgl. Psalm 71,17-19) und wenn er etwas spricht, dann geschieht das Gesprochene (vgl. 1. Mose 1). Das wird durch seine vollumfängliche Weisheit (vgl. Sprüche 8,22) und Macht (vgl. Psalm 147,5) ermöglicht. Weiter ist er so herrlich und großartig, dass ein Mensch sterben müsste, wenn er Gott von Angesicht zu Angesicht sehen würde (vgl. 2. Mose 33,20). Das liegt auch daran, dass er ausschließlich gut (vgl. Matthäus 19,17) und heilig (vgl. Offenbarung 4,8), also besonders und rein ist. Letztlich sind diese – noch lange nicht vollständigen – Eigenschaften Gottes, die uns in der Bibel präsentiert werden, für Menschen unbegreiflich (vgl. Epheser 3,18).
Somit wird der Kontrast zum Menschen deutlich: Er ist eben alles dies nicht, was Gott ist. Letzterer hat also eine eigene, ihm vom Menschen abgesonderte Qualität, die in ihm selbst liegt und begründet ist. Das führt den Autor von Psalm 8,5, nachdem er vorher Gottes Herrlichkeit beschrieben hatte, zu der erstaunten, an Gott gerichteten Frage: „Was ist da der Mensch, dass du an ihn denkst?“. Diese Frage offenbart zweierlei: auf der einen Seite die Niedrigkeit des Menschen, ausgedrückt durch die Verwunderung, dass Gott an ihn denkt, auf der anderen Seite die Würde des Menschen, ausgedrückt durch die Tatsache, dass Gott an ihn denkt. Letzteres wird in einem späteren Abschnitt noch wichtig werden.
2. Gewalt von Menschen an Menschen
In diesem Kapitel soll nun ausschließlich geklärt werden, was die Bibel dazu sagt, wie wir als Christen bzw. generell als Menschen mit unseren Mitmenschen umgehen sollen. Vielleicht mag es seltsam klingen, dass ein Gott bestimmte Verhaltensregeln vorgeben kann, aber durch die im ersten Kapitel gemachten Ausführungen sollte deutlich geworden sein, dass dies aus christlicher Sicht legitim ist: Gott ist derjenige, der das Leben ins Dasein gerufen hat und qualitativ auf einer sehr viel höheren Ebene steht, sodass er die Berechtigung dazu hat, Regeln für das Leben von uns Menschen vorzugeben.
2.1 Das Liebesgebot des Neuen Testamentes
Hier soll es nicht um die Frage nach der Gewaltausübung von Staatsorganen gehen, sondern einzig darum, wie man sich als Privatperson verhalten soll. Eine wichtige Passage dazu finden wir in Römer 12,17-21:
„Vergeltet niemand Böses mit Bösem! Bemüht euch um ein vorbildliches Verhalten gegenüber jedermann! Soweit es irgend möglich ist und soweit es auf euch ankommt, lebt mit allen Menschen in Frieden! Rächt euch nicht selbst, ihr Lieben, sondern lasst Raum für den Zorn Gottes! Denn in der Schrift steht: ‚Es ist meine Sache, das Unrecht zu rächen, sagt der Herr, ich werde Vergeltung üben!‘ ‚Wenn dein Feind hungrig ist, gib ihm zu essen; wenn er Durst hat, gib ihm zu trinken! Denn wenn du das tust, sammelst du feurige Kohlen auf seinen Kopf. Lass dich nicht vom Bösen besiegen, sondern besiege das Böse mit dem Guten!‘“
Anhand dieser Passage wird deutlich, dass ein Christ – und somit aus Sicht der Bibel eigentlich jeder Mensch – darauf aus sein soll, sich friedlich, voller Liebe und nicht rachsüchtig zu verhalten, selbst Feinden gegenüber. Dass die Liebe als Handlungsmaxime dienen soll, steht in Übereinstimmung mit allen anderen Passagen des Neuen Testamentes, in denen es um den Umgang von Menschen untereinander geht (vgl. Matthäus 22,37-40; Johannes 13,34f; 1. Johannes 4,7f). Das Liebesgebot „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“ aus Matthäus 22, 39 ist übrigens aus dem Alten Testament übernommen (vgl. 3. Mose 19,18). Nun könnte man darüber diskutieren, ob es prinzipiell verboten ist, im Verteidigungsfall notwendige Gewalt auszuüben. Dies soll hier aber nicht geschehen. Egal wie man diese Frage beantwortet, ist es jedoch sicher, dass von Christen niemals die Initiative von Gewalt gegenüber ihren Mitmenschen ausgehen sollte.
2.2. Gibt es zur Gewalt aufrufende Verse im Neuen Testament?
Nun könnte man den Einwand vorbringen, dass es verschiedene Verse im Neuen Testament gibt, in denen selbst Jesus direkt oder indirekt zur Gewalt aufruft. Zwei Versabschnitte sollen hier beispielhaft kurz betrachtet werden, wobei die erste eine wörtliche Rede von Jesus ist:
„Denkt nicht, dass ich gekommen bin, Frieden auf die Erde zu bringen. Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert. Ich bin gekommen, den Sohn mit seinem Vater zu entzweien, die Tochter mit ihrer Mutter und die Schwiegertochter mit ihrer Schwiegermutter; die eigenen Angehörigen werden zu Feinden.“ Matthäus 10,34-36
„Als das jüdische Passafest näher kam, zog Jesus nach Jerusalem hinauf. Auf dem Tempelgelände sah er Geldwechsler sitzen und Händler, die Rinder, Schafe und Tauben verkauften. Da machte er sich eine Peitsche aus Stricken und jagte sie alle mit den Schafen und Rindern aus dem Tempel hinaus. Die Münzen der Wechsler fegte er zu Boden, und ihre Tische kippte er um.“ Johannes 2,13-15
Die erste Passage hört sich tatsächlich so an, als wolle Jesus hier die Menschen spalten und sie gegeneinander aufhetzen, damit sie sich bekriegen. Wenn man sich den Kontext des Verses ansieht, dann wird jedoch deutlich, dass es hier um etwas anderes geht. Die aufgeführte Passage ist in den Abschnitt ab dem Ende von Kapitel 9 eingebettet, in dem Jesus seine Jünger zu verschiedenen Diensten aussendet. Ab Matthäus 10,16 spricht Jesus explizit davon, dass er seine Jünger „wie Schafe mitten unter Wölfe“ schicke, die von ihren Verfolgern unterdrückt werden würden. Er fordert durch die aufgeführten Verse also seine Anhänger nicht auf, andere Menschen zu unterjochen, sondern er trägt der Tatsache Rechnung, dass für Menschen, die ihm nachfolgen, massive soziale Anfeindungen entstehen (können). Die Aussagen von Jesus sind also nicht als Aufforderung oder gar als Wunschn zu verstehen, dass sich Menschen anfeinden, sondern als traurige Tatsachenbeschreibung.
Bei der zweiten Passage wendet Jesus tatsächlich Gewalt an; ob er dabei gezielt Gewalt gegen Menschen ausübt, kann dem Abschnitt nicht eindeutig entnommen werden, ist aber eher unwahrscheinlich, da es Jesus um die Sache an sich ging. Er hatte verinnerlicht, dass der Tempel aus jüdischer Sicht das Haus Gottes war und duldete somit die Geschäftemacherei auf dem Gelände des Heiligtums nicht. Vielmehr sollte der Tempel seinen ursprünglichen Zweck erfüllen: ein heiliges Haus der Ruhe (vgl. Habakuk 2,20) und Anbetung (vgl. Jesaja 56,7) zu sein. Seine Aktion, die Händler und Geldwechsler vom Tempelgelände zu vertreiben, war also aus jüdischer Perspektive folgerichtig. Nun könnte man jede Form von Gewalt ablehnen und einen immer gültigen Pazifismus bevorzugen. Allerdings sollte man sich dann (hinter)fragen, ob es nicht auch andere Ideale neben einer (weitestgehenden) Gewaltlosigkeit geben könnte.
2.3. Führt die Einteilung in ‚Gläubige‘ und ‚Ungläubige‘ nicht zur Gewalt?
Auch wenn man anerkennt, dass das Neue Testament nicht zur Gewalt aufruft, könnte man nun argumentieren, dass eine Einteilung der Menschen in Kategorien in Gläubige und Ungläubige – wie es in der Bibel passiert – zu Abneigung vonseiten der Christen gegenüber Nichtchristen und schließlich in Gewaltausübung gegenüber „den Ungläubigen“ führt. Dieses Argument hat aber keine Tragkraft, weil wir als Menschen ständig in Kategorien denken müssen, um die Realität zu beschreiben. Wir müssen nunmal unterscheiden können z.B. zwischen Erwachsenen und Kindern, Männern und Frauen, Reichen und Armen. Wenn wir das nicht täten, würden wir Kinder zur Arbeit verpflichten, von Männern erwarten können, dass sie Kinder bekommen und dem Reichen Almosen geben. Es muss nicht betont werden, wie absurd die genannten Beispiele sind. Der Punkt ist schlicht der, dass wir ständig Unterscheidungen in Bezug auf verschiedene Menschen(gruppen) treffen und dass dies notwendig und richtig ist, weil wir sonst enormes Chaos hätten.
Die schlichte Tatsache, dass Christen Nichtchristen eben als solche bezeichnen, führt keineswegs zwangsläufig zu Gewalt. Es ist eher umgekehrt, weil Christen zur Nächstenliebe gegenüber allen anderen Menschen aufgefordert werden, wie oben gezeigt worden ist. Außerdem treffen umgekehrt auch Nichtchristen die Unterscheidung zwischen sich selbst und Christen. Dies bietet doch eine gute Möglichkeit, um in einen konstruktiven Dialog zu treten und über die verschiedenen Meinungen zu diskutieren und das Gegenüber gegebenenfalls von der eigenen Position (friedlich) zu überzeugen.
2.4. Fortschreitende Offenbarung
Ein weiteres Argument für die Gewalttätigkeit des Christentums ist, dass es im Alten Testament viele grausame Stellen gibt, bei denen Gewalt auch gerechtfertigt wird. Dies ist unbestreitbar so. Dem kann aber mit der Bibel selber entgegengehalten werden, dass sich das Gottes- und Menschenverständnis im Laufe der Bibel vervollkommnet. Dies bedeutet, dass mit den jüngeren Passagen der Bibel – also dem Neuen Testament – eine breitere Gottesoffenbarung zutage getreten ist, als es noch während des Alten Testamentes der Fall ist. Als Kronzeuge dient für diese Aussage der Hebräerbriefschreiber, welcher ausführt, dass Gott zwar früher verschiedentlich durch Propheten zu den Menschen gesprochen hatte, heute jedoch durch Jesus Christus spricht (vgl. Hebräer 1,1f). Somit dient als Maßstab für Christen eben das, was Jesus (und die Apostel nach ihm wie den schon zitierten Paulus im Römerbrief) gesagt hat, was, wie gezeigt, auf das Wohlergehen selbst des eigenen Feindes ausgelegt ist. Auf die brutalen Stellen des Alten Testament wird in Kapitel drei eingegangen.
2.5. Bekehrungen mit Gewalt?
Der Verweis auf die Kirchengeschichte mit ihren teilweise brutalen Zwangsbekehrungen hält als Argument für die Gewalttätigkeit des Christentums an sich nicht stand. Auch wenn es immense Brutalität gab, die von Christen – oder solchen, die sich so nannten – ausging, hat diese, wie gezeigt, keine Grundlage in der Bibel. Jesus selbst sagt explizit, dass seine Jünger die Häuser, in denen sie bei ihren Evangelisationsbemühungen abgelehnt werden, verlassen sollen:
„Und wenn die Leute euch nicht aufnehmen oder anhören wollen, dann geht aus jenem Haus oder jenem Ort und schüttelt den Staub von euren Füßen ab.“ (Matthäus 10,14)
Christen sollen also selbst in Situationen, in denen sie womöglich intensiv mit missionarischer Motivation auf andere Leute einwirken, keine Gewalt ausüben. Wir finden also keinen biblischen Beleg für irgendwelche Gewalttaten, die von Christen ausgehen sollen, außer aus dem Kontext herausgerissene Verse, die aber im Gesamtbild kein Argument für Kritiker liefern können. Allerdings spricht Jesus im Anschluss des oben zitierten Verses eine drastischere Warnung aus:
„Ich versichere euch: Sodom und Gomorra wird es am Tag des Gerichts erträglicher ergehen als solch einer Stadt.“ (Matthäus 10,15)
Diese beiden Städte wurden laut 1. Mose 18f von Gott mit Feuer vernichtet. Wie schon in der oben zitierten Römerpassage tritt also Gott als jemand auf, der massive Gewalt ausübt. Dies ist vermutlich einer der irritierendsten und womöglich verstörendsten Punkte der Bibel. Darum soll es im nächsten Kapitel gehen.
3. Gewalt von Gott an Menschen
Zuerst einmal ist festzuhalten, dass Gott in der Bibel sowohl gegenüber den „eigenen“ Leuten als auch gegenüber „anderen“ Leuten Gewalt ausübt. Mit den „Eigenen“ sind generell die gemeint, die eigentlich prinzipiell für ihn leben wollen, mit den „Anderen“ sind jene gemeint, die prinzipiell nicht für ihn leben wollen. Erstere sind im Alten Testament die Israeliten, im Neuen Testament die Christen. Letztere sind im Alten Testament alle außer die Israeliten, im Neuen Testament alle außer die Christen. Auch ist zu konstatieren, dass Gott laut der Bibel Gewalt selbstständig ausübt, aber auch durch Menschen ausüben kann. Zunächst wollen wir herausfinden, was die Bibel über Gottes Motivation sagt, Gewalt zu gebrauchen. Dafür wollen wir uns fünf Gründe ansehen, die die Bibel nennt.
3.1. Gründe für die Gewaltausübung Gottes
3.1.1. Gericht/Strafe
Der erste Grund besteht in der Strafe bzw. dem Gericht Gottes über menschliches Fehlverhalten. Oben wurde schon erwähnt, dass die Städte Sodom und Gomorra zerstört wurden, weil deren Einwohner ungerecht handelten (vgl. 1. Mose 18,20; 19,15). Deutlich wird dies an der Stelle, in der alle männlichen Bürger Sodoms zwei Fremde schänden wollen (vgl. 1. Mose 19,4f). Hier bestraft Gott also die Einwohner der Stadt wegen ihrer Ungerechtigkeit bzw. Sünde.

3.1.2. Zurechtbringung
„Zurechtbringung“ im biblischen Sinne bedeutet, dass Gott Menschen wieder dazu bringt, ihm nachzufolgen und für ihn zu leben. Das könnte man jetzt als übergriffigen Zwang auffassen, ist aber innerbiblisch ziemlich konsistent. Wenn man von Gott als Schöpfer ausgeht, der die Menschen ins Dasein gebracht hat – siehe Kapitel 1 -, dann ist es auch nicht abwegig, dass wir als Menschen dazu da sind, für ihn zu leben (vgl. Römer 14,7f). Ein Abschnitt, der diese „Zurechtbringung“ thematisiert, steht kurz vor der Landnahme Kanaans, wo Gott den Israeliten verschiedene Anweisungen mitgibt. Er spricht in 5. Mose 4,25-30 Folgendes:
„Und wenn […] ihr […] euch dann ein Gottesbild in irgendeiner Gestalt macht und tut, was vor Jahwe, deinem Gott, böse ist und ihn reizt, […] wird Jahwe euch unter die Völker zerstreuen, und nur eine geringe Zahl von euch wird unter den Nationen übrig bleiben, zu denen Jahwe euch dann führt. […] Und von dort aus werdet ihr Jahwe, euren Gott, suchen. Du wirst ihn finden, wenn du von ganzem Herzen und ganzer Seele nach ihm suchst. Wenn du in Not bist und all dies dich trifft am Ende der Zeit, dann wirst du zu Jahwe, deinem Gott, umkehren und auf ihn hören.“
Hier wird deutlich, dass Gott bei einem Abfall der Israeliten von ihm diese Mittel gebraucht, um sie zu bestrafen. Diese dient aber nicht als Selbstzweck, sondern als ein Mittel zur Besinnung und Umkehr zurück zu Gott.
3.1.3. Rettung
Eine dritte Perspektive auf die Gewalt Gottes bietet der Prophet Habakuk, von welchem ein Zwiegespräch mit Gott im gleichnamigen Buch überliefert ist. Habakuk hadert sehr damit, wie Gott es mindestens zugelassen hatte, dass sich die Babylonier als neue Großmacht gewaltvoll etablieren konnten und so auch die Israeliten davon in Mitleidenschaft gezogen wurden (vgl. Habakuk 1,6 u. 12). Gegen Ende des Buches kommt er allerdings zu der Erkenntnis, dass Gott sein Volk retten wird; dort heißt es in Habakuk 3,12f:
„Im Grimm schreitest du über die Erde, im Zorn zerstampfst du die Völker. Du ziehst aus, um dein Volk zu retten, um deinem Gesalbten zu helfen. Vom Haus des Gottlosen zerschmetterst du den First, entblößt es bis auf den Grund.“
Gott sorgt also letztlich (gewalttätig) dafür, dass die Israeliten wieder gerettet werden.
3.1.4. Verherrlichung und Erkenntnis Gottes
Gott setzt laut der Bibel auch Gewalt ein, damit seine Größe deutlich wird und so die Menschen erkennen, wer wirklich Gott ist. Deutlich wird dies im Kontext der Exoduserzählung, in der Gott sein Volk auch rettet, damit die Ägypter merken, dass er größer als ihre Götter ist. Dazu heißt es in 2. Mose 7,5:
„Die Ägypter sollen erkennen, dass ich Jahwe bin, dessen Macht sie spüren, wenn ich die Israeliten aus ihrem Land wegführe.“
Interessanterweise heißt es dann in 2. Mose 12,38, dass zusammen mit den Israeliten viele Nichtisraeliten bei dem letztlich gelungenen Auszug dabei waren. Nach dem biblischen Text ließen sich anscheinend viele Ägypter bzw. andere Volksgruppen auf den Gott Israels ein.
3.1.5. Bewahrung der alleinigen Anbetung Gottes
Gott macht im Alten Testament deutlich, dass er der einzig wahre Gott ist, der angebetet werden soll (vgl. 2. Mose 20,3). Deswegen spricht er mit drastischen Worten zu den Israeliten vor der Landnahme in 5. Mose 20,17f:
„An allen Völkern im Land musst du unbedingt den Bann vollstrecken, wie Jahwe, dein Gott, es dir befohlen hat: an den Hetitern, Amoritern, Kanaanitern, Perisitern, Hiwitern und Jebusitern. Sonst werden sie euch dazu verführen, gegen Jahwe, euren Gott, zu sündigen und die Abscheulichkeiten nachzuahmen, die sie zu Ehren ihrer Götter begangen haben.“
Hier kommen wir an ein massives Problem: Den „Bann zu vollstrecken“ heißt eine radikale Auslöschung ganzer Städte und Volksgruppen vorzunehmen, auch von Frauen und Kindern. Dies hört sich sehr stark nach einem Genozid an. Eine der bekanntesten Stellen dafür dürfte die Eroberung Jerichos sein, zu der es in Josua 6,21 heißt:
„Mit dem scharfen Schwert in der Hand vollstreckten sie den Bann an allem, was in der Stadt lebte: an Männern und Frauen, Alten und Jungen, Rindern, Schafen und Eseln.“
Auch wenn diese Geschichte insgesamt eine heroische Note hat, ist die dahinter liegende Realität äußert brutal. Man muss in der Bibel prinzipiell unterscheiden zwischen deskriptiven und normativen Texten. Die erste Kategorie an Texten beschreibt eine Tat lediglich, ohne diese zu werten, während die zweite Kategorie eine Tat nicht nur beschreibt, sondern auch positiv oder negativ bewertet. Während viele Berichte über Gewalttaten, die in der Bibel beschrieben werden, der ersten Kategorie Text zugeordnet werden können, haben wir es mit dem Eroberungsbericht von Jericho mit einem Text der zweiten Kategorie zu tun, weil Gott vorher den Auftrag der Eroberung in Auftrag gegeben hatte.
3.2. Zwölf einordnende Gedanken zur Gewalt Gottes
Was kann man nun dazu sagen? Viele Christen hadern mit solchen Texten, während sich viele Nichtchristen wegen solchen Texten angewidert von der Bibel abwenden und dadurch vielleicht auch generell mit dem christlichen Glauben nichts mehr zu tun haben wollen. Ehrlicherweise kann ich beides nachvollziehen. Deshalb möchte ich nun zwölf Gedanken zur Einordnung von solchen Gewaltpassagen weitergeben. Dies soll nicht anhand eines Beispieltextes geschehen, sondern systematisch durch die Bibel erfolgen. Hierbei kommt es öfters vor, dass ein Aspekt, den ich im Folgenden nennen werde, vielleicht nur bei einer Begebenheit in der Bibel genannt wird. Ich gehe aber davon aus, dass eben solche einmal oder seltener genannten Aspekte auch bei anderen biblischen Begebenheiten zum Tragen kommen (können), in denen sie nicht explizit genannt werden. Wichtig ist hierbei, dass man sich auf die innere Logik der biblischen Texte einlässt. Dies bedeutet, den Versuch zu wagen, die Rahmenbedingungen der Gewaltausübung Gottes ernst zu nehmen, so wie man auch die Gewaltausübung an sich ernst nimmt. Beispielsweise wäre es also unredlich, die Bibel als gewaltvoll darzustellen, während man gleichzeitig die dafür genannten Gründe nur als Fiktion der biblischen Autoren begreift.
3.2.1. Andere Zeiten
Der erste Punkt soll kein plattes Argument sein, um das Widerstreben gegen die biblischen Gewalterzählungen vom Tisch zu wischen. Dennoch ist zumindest ein bisschen was dran an der Aussage, dass sich Ansichten im Laufe der Zeit ändern. Pauschal und etwas vereinfachend gesagt sind wir heutzutage sehr sensibel z.B. in Bezug auf die Diskriminierung von Menschen und den Tod als Ende unserer individuellen Selbstentfaltung. Auf der anderen Seite fehlt es (aus biblischer Perspektive) an sensiblem Gespür dafür, wie schwer Sünde wiegt und dass Götzendienst (wenn man annimmt, dass es nur einen wahren Gott gibt) abscheulich ist. Daher kommt es auch teilweise, dass wir Gottes Reaktionen auf diese Verfehlungen als sehr hart empfinden. Außerdem ist uns die Vorstellung völlig fremd, dass Gott jemand ist, der (auch) Krieg führt. Zur Zeit des Alten Testamentes war dies eine völlig normale Vorstellung. Die Babylonier verehrten den Kriegsgott Nergal, während die Assyrer Ninurta als Gott des Krieges betrachteten. Bekannter dürften Mars und Ares sein, die Kriegsgötter der Römer und Griechen. Das sorgt nun jetzt natürlich nicht für eine Lösung des Gewaltproblems, es soll uns jedoch sensibler machen dafür, dass unsere heutigen Empfindungen nicht immer der Maßstab aller Dinge sein müssen. Dies lässt sich z.B. auch an der Frage des Nahostkonfliktes (insbesondere nach dem Angriff der Hamas am 7.10.2023 auf Israel) darstellen: Während die einen das harte Zurückschlagen der Israelis als viel zu hart empfinden, halten es andere mit dem gleichen Informationsstand für gerechtfertigt.
3.2.2. Sünde des Menschen
Wichtig zu betonen ist, dass Gottes Gewalt nicht in luftleerem Raum entsteht. Es geht immer eine Verfehlung von Menschen voraus. Bei manchen Begebenheiten wie der von Achan, der etwas aus Jericho mitgehen lässt, was eigentlich vernichtet werden sollte, und dafür die Todesstrafe erhält, wirkt das Gericht unverhältnismäßig zu dem Verbrochenen. An manchen anderen Stellen wird aber deutlich, dass es auch zu schlimmeren Verfehlungen gekommen war. In 2. Könige 16,3 wird von dem judäischen König Ahas berichtet, dass er nach dem Vorbild kanaanäischer Völker seinen Sohn den Göttern opferte. Dem Vers nach zu urteilen waren diese Opferungen unter den kanaanäischen Volksgruppen weiterverbreitet (vgl. auch 2. Könige 23,10; 2. Könige 17,17, wo sich die Israeliten neben den Kindesopferungen noch Wahrsagerei und Zauberei zu Eigen machten). Damit die Israeliten nicht solche Praktiken ausführten, hatte Gott den oben zitierten harschen Befehl (vgl. 5. Mose 20,17) erteilen lassen, diese Völker zu vertreiben (siehe 7. Übertriebene Sprache) bzw. teilweise auszulöschen.
3.2.3. Gottes Heiligkeit
An dieser Stelle muss ich auf das erste hier ausgeführte Kapitel verweisen und dieses als Grundlage nehmen. Nach der Bibel ist Gott der absolut Gute und Heilige. Nun kann man auf zweierlei Art und Weise diese Aussage betrachten. Zum einen kann man sie aufgrund der von Gott ausgeübten Gewalt in der Bibel verneinen. Auf der anderen Seite kann man argumentieren, dass Gott eben aufgrund seiner höheren, in ihm selbst liegenden Qualität – weil er eben Gott ist – das Recht hat, zu strafen und Gericht zu halten. Wenn er derjenige ist, der das Leben schenkt, hat er auch das Recht, Leben zu nehmen. Und wenn er derjenige ist, der vollständig heilig ist, ist auch jede noch so kleine Verfehlung im Widerspruch zu ihm, sodass auch eine kleine Schuld von ihm sanktioniert werden muss. Aus biblischer Sicht steht Gott ganzheitlich für unser Normen- und Wertegefüge und ist mit ihm direkt verbunden, was in Jakobus 2,10f deutlich wird:
„Denn wer das ganze Gesetz hält, und nur gegen ein einziges Gebot verstößt, der ist an allen schuldig geworden. Denn der, der gesagt hat: ‚Du sollst die Ehe nicht brechen!‘, hat auch gesagt: ‚Du sollst nicht morden!‘ Wenn du nun keinen Ehebruch begehst, aber jemand umbringst, dann hast du das Gesetz übertreten.“
In diesen Versen werden zwei Verbindungsglieder gesetzt: Zum einen steht jedes einzelne, von Gott gegebene Gebot für das ganze Gesetz Gottes. Zum anderen steht das ganze Gesetz Gottes für Gott selbst, weil er der Ursprung desselben ist. Somit ist die Übertretung eines Gebotes konsequenterweise eine Übertretung gegen Gott selbst. Deshalb wiegt jede Sünde so schwer, weil sie sich immer gegen Gott selbst richtet. Diese Denkweise weicht von unserer juristischen Praxis ab, bei der man nur dafür verantwortlich ist, was man tatsächlich getan hat – und das ist auch gut so. Der innerbiblischen Logik nach gebührt Gott also eine unendlich viel größere Verehrung als einem staatlichen Gesetzgeber.
3.2.4. Gottes Geduld
Dass Gott nur darauf aus sei, Völker auszulöschen, widerspricht eine Rede Gottes aus 1. Mose 15. Dort spricht er mit Abraham, dem Stammvater der Israeliten, und erklärt diesem, dass sein Volk lange Zeit in Ägypten versklavt bleiben werde, weil die Verfehlungen der Amoriter, einer kanaanäischen Volksgruppe, noch nicht komplett seien (vgl. 1. Mose 15,16). So wartet Gott Jahrhunderte, bis er sein Gericht (durch die Israeliten) über die Amoriter ausführt. Jetzt könnte man dies wiederum unfair für die Israeliten finden, die ja nun extra länger Sklaven in Ägypten bleiben mussten. Diese Diskussion soll an dieser Stelle nicht erfolgen. Zentral ist, dass Gott seine Strafe hinauszögert. Wenn man sich auf die biblische Perspektive eingelassen hat, könnte man hierauf dennoch antworten, dass die Amoriter ja keine Information darüber hatten, wer der richtige Gott sei und folglich auch nicht umkehren konnten. Hierauf soll der folgende Aspekt eingehen.
3.2.5. Volles Bewusstsein der Menschen
Vielleicht stimmt es, dass die Amoriter (und alle anderen Völkergruppen) langfristig vor der israelitischen Landnahme keine Kenntnis über deren Gott hatten. Aus biblischer Sicht muss man allerdings konstatieren, dass sie es wahrscheinlich mittelfristig (40 Jahre vorher aufgrund des Exodus aus Ägypten), mindestens aber kurzfristig vor der Landnahme hatten. So sagt Rahab, die Bewohnerin Jerichos zu den zwei israelischen Spionen in Josua 2,9-11:
„Ich weiß, dass Jahwe euch das Land geben wird. Uns hat ein derartiges Entsetzen vor euch überfallen, dass alle Bewohner des Landes wie gelähmt sind. Denn wir haben gehört, dass Jahwe das Wasser des Schilfmeeres vor euch ausgetrocknet hat, als ihr aus Ägypten zogt, und wir wissen auch, was ihr mit den beiden Königen der Amoriter auf der anderen Jordanseite gemacht habt, mit Sihon und Og. Ihr habt den Bann an ihnen vollstreckt und sie vernichtet. Als wir das hörten, haben wir allen Mut verloren. Keiner von uns wagt es noch, gegen euch zu kämpfen. Ja, euer Gott, Jahwe, er ist Gott im Himmel oben und auf der Erde unten.“
Rahab betont, dass „alle Bewohner des Landes“ wie gelähmt seien, da sie von Gottes Taten gehört hatten. Dennoch stellen sie sich gegen die Israeliten, anstatt sich zu ergeben und zu diesem Gott umzukehren. Hier positionieren sie sich also im vollen Bewusstsein gegen Gott.
Ein weiteres Beispiel für ein im vollen Bewusstsein gegen Gott ausgerichtetes Handeln finden wir in 1. Samuel 5f. In einem kriegerischen Konflikt hatten die Philister zuvor die jüdische Bundeslade in ihren Besitz bekommen. Das wirkte sich verheerend auf jede Stadt aus, in die die Bundeslade kam, da Gott ihnen schwere Krankheiten sandte. Dennoch behielten sie die Lade insgesamt sieben Monate und befragten ihre Wahrsager, was sie damit anfangen sollten. Diese erkannten Gott hinter den Krankheiten und empfahlen, die Bundeslade in einer speziellen Prozedur mit verschiedenen Weihegeschenken zurückzuschicken, was letztlich funktionierte. Dennoch kehrten die Philister nicht zu Gott um und ließen sich später wieder auf einen Kampf gegen die Israeliten ein, den sie verloren.
3.2.6. Betrachtung der ganzen Erzählung
Dieser Aspekt ist eigentlich eine Zusammenfassung der vorangegangenen Punkte. Bei der Betrachtung göttlicher Gewalt in der Bibel wird sich oftmals ausschließlich auf diese konzentriert, ohne jedoch den weiteren Kontext zu beachten, in dem die Punkte 2-5 eingebettet sind. In 2. Mose 32,28 wird berichtet, dass etwa dreitausend Männer des Volkes Israel umgebracht wurden, weil die Israeliten sich vorher ein goldenes Kalb als Abbild Gottes gemacht hatten. Dieses zweifellos schlimme und brutale Gericht kann ein Schaudern auslösen. Jedoch muss hier eben auch der gesamte Kontext der biblischen Erzählung berücksichtigt werden.
Es fängt mit der Fürsorge Gottes an, dass die Israeliten aus Ägypten befreit werden und von dort ausziehen können (2. Mose 3-14). Daran schließt sich Gottes weitere Hilfe und Versorgung an (2. Mose 16f) (4. Gottes Geduld bzw. Fürsorge). Später macht Gott mit den Israeliten einen Bund, in dem er klarstellt, dass sie sich keine Götterabbilder machen sollen (2. Mose 20,4) (3. Gottes Heiligkeit). In diesen Bund, in dem auch die negativen Konsequenzen bei Nichteinhaltung mitgenannt werden, willigen die Israeliten ein (2. Mose 24,7) (5. Volles Bewusstsein der Menschen). Nun handelt das Volk Gottes Anweisungen zuwider, in dem es sich ein Götterbild in Form eines Kalbes machen lässt (2. Mose 32,1-6) (2. Sünde des Menschen). Anschließend erfolgt das brutale Gericht und 3000 Männer werden umgebracht. Dass jetzt noch immer kein gutes Bauchgefühl aufkommt, ist absolut nachvollziehbar, aber vielleicht lassen diese Ausführungen die Einordnung des Gerichtes besser zu.
3.2.7. Reduzierte Komplexität
Im zweiten Kapitel bin ich unter dem vierten Punkt kurz darauf eingegangen, dass sich laut 2. Mose 12,38 viele Nichtjuden dem Exodus der Isareliten angeschlossen haben. In der gesamten Erzählung vorher wird dies aber mit keiner Silbe erwähnt. Das bedeutet, dass der Text viele Details, die unwesentlich für die Hauptbotschaft der Erzählung sind, nicht erwähnt. Darunter könnten zahlreiche Geschichten fallen, in denen sich Ägypter dem israelitischen Gott zuwenden. Wenn wir diesen erwähnten Vers nicht hätten, hätten wir gar keinen Anhaltspunkt für so eine Erwägung. Es könnte also sein, dass auch bei anderen Texten viele Aspekte unterschlagen werden, einfach weil sie für die Haupterzählung als nicht so relevant erachtet wurden. Darunter könnten Geschichten sein, in denen Nichtisraeliten umkehrten und gerettet wurden. Das ist natürlich erstmal spekulativ, aber auch nicht unplausibel.
3.2.8. Übertriebene Sprache
Bei der ganzheitlichen Lektüre der Bibel fällt auf, wie ihre Autoren öfters eine übertriebene Sprache verwenden. Gott wollte laut 2. Mose 23,23 verschiedene Völkergruppen Kanaans „vernichten“. Er bescheinigt allerdings wiederum in Vers 28, dass die Israeliten diese Völkergruppen „vertreiben“ würden. Dass eine Vertreibung auch hart ist, bedarf keiner Erläuterung, dennoch ist es eine weniger harte Sanktion als eine „Vernichtung“.
In 1. Samuel 15,3 beauftragt Gott wiederum den israelitischen König Saul, die Amalekiter komplett zu vernichten. Der Text schildert in Vers 8 daraufhin, dass Saul dies auch tat. Ab dann dürften die Amalekiter eigentlich nie wieder in der Bibel erwähnt werden, weil diese ja ausgerottet sein müssten. In 1. Samuel 27,8 tauchen sie allerdings wieder als Gegner von König David auf. Wenn wir nun davon ausgehen, dass beide Textabschnitte die Wahrheit erzählen, ist die einzig logische Schlussfolgerung, dass die erste Passage sprachlich übertreibt. Die komplette Vernichtung der Amalekiter ist dann eben nicht die komplette Vernichtung, sondern „nur“ eine teilweise Auslöschung. Ein analoges, modernes Beispiel wäre, wenn man heutzutage Folgendes sagen würden: „Ich warte schon ewig auf mein Paket“. Jeder weiß, dass die Person nicht „ewig“ wartet, sondern lediglich eine gewisse Zeit, die sie aber als zu lang empfindet. Das gleiche Phänomen kann hinter der biblischen Aussage stecken, alle zu vernichten.
Der US-amerikanische Theologe Richard Hess führt in einem Aufsatz mit dem Titel war in the hebrew bible: An overview an, dass archäologische Hinweise für Jericho, deren Zerstörung in Josua 6 berichtet wird, lediglich auf eine militärische Besatzung schließen lassen (vgl. S. 29f). So wären Rahab und ihre Familie den wenigen Zivilisten der Stadt zuzurechnen, die dann auch gerettet wurden. Ohne jetzt auf die komplexen Datierungsmöglichkeiten der Landnahme bzw. im speziellen des Kampfes der Isareliten gegen Jericho einzugehen, erweist sich Hess‘ These in Anbetracht der biblischen Ausführungen als plausibel.
Durch die gemachten Ausführungen wird man auch hier nicht die Brutalitäten leugnen können, die definitiv in den Kampfhandlungen geschehen sind, aber es lässt sie vielleicht in einem milderen Licht erscheinen.
3.2.9. Diesseits und Jenseits
Man kann annehmen, dass in den Kämpfen auch unschuldige Menschen umgekommen sind. Dies muss einem ungerecht und als zu hart erscheinen, vor allem, wenn der Fokus auf dem irdischen Leben dieser Menschen liegt. Wenn man jedoch die Perspektive auf eine mögliche Ewigkeit nach dem Tod erweitert, bekommt die Thematik eine neue Dimension. Diese muss man ernstnehmen, da die Bibel ständig davon spricht, dass das eigentliche Leben erst nach dem Tod beginnt (vgl. z.B. Philipper 3,20). Meine These ist, dass die unschuldig in den Kampfhandlungen der Israeliten gestorbenen Menschen (v.a. Kinder) es in der Ewigkeit guthaben werden. Dafür lässt sich letztlich kein endgültiger Beweis anführen, allerdings halte ich es für plausibel.
Mein Ausgangspunkt für diese These ist die Begebenheit aus Apostelgeschichte 5,1-11, in der ein der christlichen Gemeinde zugehöriges Ehepaar von Gott für eine Lüge bestraft wird und tot umfällt. Es gibt im Text keinen Hinweis darauf, dass sie nicht generell an Gott bzw. Jesus geglaubt haben. Diese Strafe Gottes für ein vermeintlich so geringfügiges Vergehen stellt auch eine der wenigen Ausnahmen im Neuen Testament dar. Das ist der entscheidende Punkt: Hier an dieser Stelle bestraft Gott die beiden für etwas, für das er sehr viele anderen Menschen – Christen – nicht bestraft. Die Schlussfolgerung, dass die beiden ihr ewiges Leben nicht bei Gott verbringen werden, ist also nicht schlüssig. Vielmehr muss man davon ausgehen, dass Gott die beiden aus irgendeinem Grund strafte, sie aber durch ihren generellen Glauben gerettet waren. Wenn man dies so akzeptiert, bedeutet das noch nicht zwingend, dass auch die im Alten Testament unschuldig getöteten Menschen in den Himmel kommen. Die Möglichkeit liegt aber zumindest nahe.
3.2.10. Begrenzung in Ort und Zeit
Die Berichte der Bibel über Kriege sind allesamt Berichte, die Auskunft über ein historisches Ereignis ablegen wollen. Keiner dieser Texte erhebt einen überzeitlichen Anspruch, dass die Anhänger Gottes weiterhin Krieg führen sollen. Vielmehr ist die Bibel voll von Friedensvisionen, in denen Gott der Gewalt und dem Krieg ein Ende bereitet (vgl. Sacharja 9,10; Jesaja 2,4). Die Kriege der Israeliten, welche vornehmlich im Buch Josua beschrieben werden, dienen der Einnahme, Verteidigung und Sicherung des Landes, wobei sie mit König David enden (vgl. 2. Samuel 7,1). Das markiert also einen zeitlichen und räumlichen Rahmen für diese Kämpfe. Mitnichten kann man aus solchen Erzählungen irgendwelche Handlungsanweisungen für heute ableiten (vgl. Kapitel 1. Gewalt von Menschen an Menschen).
3.2.11. ‚Christliche‘ Beurteilung
Klassischerweise sagt man, dass unsere westliche Welt durch die römische und griechische Antike und vom Christentum geprägt wurde. Die Zeit der Aufklärung muss man sicherlich auch hinzufügen. Dies bedeutet, dass ein Pfeiler der westlichen Welt das Christentum darstellt, insbesondere natürlich die Person von Jesus Christus. Nun kennen viele Menschen (immer noch) das Gleichnis vom Barmherzigen Samariter oder vom verlorenen Sohn, der von seinem Vater trotz seinem schändlichen Leben wieder in die Arme geschlossen wird. Allein diese beiden Gleichnisse handeln von Barmherzigkeit und Güte, die man anderen Menschen entgegenbringen soll. Darüber hinaus spiegelt das komplette Verhalten Jesu seine Liebe zu den Mitmenschen wider. Die Abolitionisten um William Wilberforce, welche jahrzehntelang darum kämpften, die Sklaverei im Britischen Weltreich zu verbieten, waren überzeugte Christen und handelten aus christlicher Motivation. 1833 hatten sie schlussendlich Erfolg. Mit diesem Beispiel möchte ich andeuten, dass unsere Kultur und unser Denken eben auch (immer noch) christlich geprägt sind. Ironischerweise trägt so auch unsere christlich geprägte Sicht dazu bei, dass wir brutale Gewalt scharf verurteilen.
3.2.12. Gott hält Anfragen und Klagen aus
Die vorher genannten elf Punkte können prinzipiell eine Hilfe sein, die teilweise äußerst brutalen Gerichte Gottes (besser) zu verstehen. Dennoch bleibt möglicherweise ein ungutes Bauchgefühl wegen der teilweise massiven Gewaltausübung bestehen. Die Bibel ist voll von Versen, in denen Menschen Gott anklagen bzw. ihm klagende Fragen stellen, weil sie verschiedene Dinge nicht verstehen. Zwei Beispiele dafür sind Hiob (vgl. Hiob 10) und Habakuk (vgl. Habakuk 1,1-4). Auch beim Thema der göttlichen Gewalt kann dies legitim sein. Bemerkenswerterweise halten sowohl Hiob als auch Habakuk weiterhin an Gott fest.
4. Gewalt Gottes gegen sich selber
Wir haben nun gesehen, dass es Menschen aus christlicher Sicht nicht gestattet ist, gewaltvoll gegen andere Menschen zu agieren. Darüber hinaus haben wir gesehen, dass Gott das Recht dazu hat, Menschen Gewalt anzutun. Nun kommt es aus biblischer Sicht aber zu einem Problem, da jeder Mensch in irgendeiner Form schonmal Gewalt gegenüber seinen Mitmenschen ausgeübt hat. Jesus macht nämlich klar, wo menschliches Fehlverhalten seinen Ursprung hat, nämlich im Herzen. Deswegen nimmt er eine im ersten Blick extreme Sichtweise an, indem er konstatiert, dass z.B. Mord und Ehebruch schon in Gedanken anfangen und sogar vollzogen werden, auch wenn die eigentliche Tat nicht ausgeführt wird (vgl. Matthäus 7,21-23 und 27f).
Somit ist das fehlerhafte bzw. sündige Herz das eigentliche Problem. Jesus legt also die Messlatte von Gottes Maßstäben höher, als sie je in der Bibel vorher formuliert werden. Für uns Menschen wäre das eine niederschmetternde und ernüchternde Botschaft, weil Sünde immer von Gott trennt (vgl. Römer 3,23). Doch Jesus selbst hat diese neugesteckte Messlatte selber übersprungen, indem er perfekt und rein gelebt hat. Deshalb ist er als Sohn Gottes gekommen, um die Strafe für uns Menschen stellvertretend auf sich zu nehmen. Alle vier Evangelien thematisieren das Leiden und den Tod Jesu am Kreuz von Golgatha, aber auch seine Auferstehung von den Toten. Der Apostel Paulus führt in Römer 3,24-26 aus:
„Doch werden sie (die Menschen) ohne eigenes Zutun durch seine Gnade gerecht gesprochen. Das geschieht aufgrund der Erlösung, die in Christus Jesus ‹Wirklichkeit geworden› ist. Ihn hat Gott als Sühnopfer öffentlich dargestellt. Durch sein vergossenes Blut ist die Sühne vollzogen worden, und durch den Glauben kommt sie uns zugute. So hat Gott auch den Beweis erbracht, dass er gerecht gehandelt hatte, obwohl er die bis dahin begangenen Sünden der Menschen ungestraft ließ. Und heute beweist er seine Gerechtigkeit dadurch, dass er den für gerecht erklärt, der aus dem Glauben an Jesus lebt.“
Paulus erklärt hier die Sinnhaftigkeit eines massiven Gewaltaktes. Und zwar den Gewaltakt, den der dreieine Gott an sich selber, nämlich an seinem Sohn ausgeführt hat. So steht es in Jesaja 53,10:
„Doch Jahwe wollte ihn (Jesus) zerschlagen. Er war es, der ihn leiden ließ. Und wenn er (Jesus) sein Leben als Schuldopfer eingesetzt hat, wird er leben und Nachkommen haben. Durch ihn gelingt der Plan Jahwes.“
Was sich also erst vermeintlich sadistisch anhört, ist letztlich die Liebe zu uns Menschen, die Gott, den Vater angetrieben hat, das Kostbarste zu geben, was er hat: seinen Sohn. Er verleiht uns Menschen damit eine unfassbare Würde. Das Leiden Jesu und seine Auferstehung sind der Höhepunkt der allgemeinen biblischen Erzählung. Die Passagen vorher führen hin zu Jesus und die Texte danach zeigen die immense Bedeutung dieser gewalt(tät)igen Aktion auf. Jedem Menschen, der an Jesus Christus glaubt, werden die Sünden vergeben und ewiges Leben geschenkt. Dieser Gewaltakt von Jesu Tod am Kreuz bleibt also nicht so düster, wie er zuerst wirkt, vielmehr ist er Teil einer für alle Menschen frohen Botschaft:
„Glaube an Jesus, den Herrn! Dann wirst du gerettet […].“ (Apostelgeschichte 16, 31)

Literatur:
- Copan, P.: Is God a Moral Monster? Making Sense of the Old Testament God, Grand Rapids 2011.
- Hess, R. S.: War in the hebrew bible: An overview, in: Hess, R.S.; Martens E.A. (Hg.): War in the Bible and Terrorism in the Twenty-First Century (Bulletin for Biblical Research Supplement 2) Winona Lake, 2008.