Dieser Artikel ist der Vierte Teil einer Artikelreihe über die Messianität Jesu. Erschienen ist bisher:
Die Suche nach einem gnädigen Gott ist in besonderer Weise mit dem protestantischen Glauben verbunden. Die Reformatoren und ihre Nachfolger gingen nicht selbstverständlich davon aus, dass Gott Ihnen schon aus Prinzip gnädig sein wird, sondern die naturelle und persönliche Sünde sie von Gott trennt. John Owen schreibt:
„Was wird es unseren Seelen nützen, welchen Trost wird es uns bringen, welche Zuneigung wird es unseren Herzen zu Gott geben, zu wissen, dass er unendlich gerecht, gerecht und heilig, unveränderlich wahr und treu ist, wenn wir so bloß wissen, wie er die Herrlichkeit seiner Gerechtigkeit […] bloß zu unserem Verderben und Untergang wirken kann? Welchen Trost wird es uns bringen […], zu wissen, dass er unendlich gerecht, gerecht und heilig, unwandelbar wahr und treu ist, wenn wir nicht wissen, wie er den Ruhm seiner Gerechtigkeit […] anders zur Ehre führen kann, als zu unserem Verderben und Untergang? Wenn wir von daher nur sagen können, dass es eine gerechte Sache bei ihm ist, uns Gericht für unsere Sünden zu vergelten? Zu was brachten diese Überlegungen Adam im Garten? Wie soll ich Ermutigung […] darin finden, dass man weiß, dass er geduldig und voller Nachsicht ist, wenn die Herrlichkeit dieser Geduld im Ertragen der Gefäße des Zorns, die zum Verderben bestimmt sind, verherrlicht werden soll? Nein, was nützt es uns, wenn er sich selbst als ‚der HERR, der HERR, Gott, barmherzig und gnädig, reich an Güte und Wahrheit‘ bezeichnet, aber gleichzeitig sagt, dass er ‚die Schuldigen keineswegs freisprechen wird‘, und so die Ausübung all seiner anderen Eigenschaften uns gegenüber wegen unserer Ungerechtigkeit verschließt? Alles nützt uns rein gar nichts! […] Gottes Geduld wird sie verstocken (Pred 8,11) Seine wird sie von jedem Gedanken an eine Annäherung an ihn abschrecken (Joh 20,19) Und welche Erleichterung soll der Gedanke an Gottes Allgegenwart und Unendlichkeit bringen, als uns nur dazu zu bewegen, darüber nachzudenken, wie wir vor Gott fliehen können (Ps 139,11-12)“.[1]
Wer ist John Owen?

John Owen(1616-1683) war ein englischer nonkonformistischer Theologe. Seine Bedeutung für die Entwicklung der reformatorischen Theologie, für die Entwicklungsgeschichte protestantischer Bekenntnise und für ein Trinitarisches Denken besitzt bis heute einen großen Einfluss. Bedeutende Werke von John Owen sind: „Communion with God“, „Mortification of Sin“ und der Hebräer-Brief Kommentar.
Diese Aussage ist für John Owen keine bloße Theorie gewesen, die er aus einem gemütlichen Studierzimmer niederschrieb. Die Suche nach dem gnädigen Gott war ein entscheidender Kampf für seine Person. Als junger Mann fiel Owen in eine monatelang anhaltende Melancholie, sprach kaum mit seinen Menschen, und viele hielten ihn für verstört. Die Situation wurde nach einigen Monaten zwar besser, aber es dauerte etwa fünf Jahre, bis Owen Heilsgewissheit erlangen konnte, in der Gewissheit, dass Gott ihn im stellvertretenden Opfer Jesu gerechtfertigt hatte.[2] Die Suche nach dem gnädigen Gott lief bei Owen somit innerhalb einer großen Lebenskrise ab; darin ist er Luther[3] oder Bunyan[4] ähnlich.
Die theologische Grundfrage blieb die gleiche: Wie kann Gott jedoch gleichzeitig gerecht und gnädig sein? Als Mose Gott zu schauen begehrte, da musste er sich in einem Felsspalt verstecken, als Gottes Herrlichkeit an ihm vorbeizog, und wir lesen von einer besonderen Offenbarung Gottes und seines Wesens in diesem Moment, als „alle Güte Gottes an Mose vorbeiging und der Name Gottes ausgerufen“ (2Mose 33,19) wurde, wie Gott sich untrennbar sowohl als gerecht als auch als gnädig definiert: „Und der HERR ging vor seinem Angesicht vorüber und er rief: Jahwe, Jahwe, Gott, barmherzig und gnädig, langsam zum Zorn und reich an Gnade und Treue, der Gnade bewahrt an Tausenden von Generationen, der Schuld, Vergehen und Sünde vergibt, aber keineswegs ungestraft lässt, sondern die Schuld der Väter heimsucht an den Kindern und Kindeskindern, an der dritten und vierten Generation.“ (2Mose 34,6-7). Gott offenbart sich sowohl als gerecht, wie auch als gnädig. Diese Selbstoffenbarung Gottes und ihr Bezug zu seinem Bundesvolk, aber auch Gottes Umgang mit den Nationen, kann nicht hoch genug bewertet werden. Die Psalmen referenzieren diesen Text regelmäßig in ihren Lobliedern über Gott (Ps 86,15; 103,8; 108,4). Für die Propheten ist diese Lehre, dass Gott sowohl gnädig wie auch gerecht ist, das Fundament, warum mitten im Gericht dennoch weiterhin Gott gesucht werden sollte (Joel 2,13). Jona weiß bereits, als er das Gericht über Ninive ankündigt, dass er das nur deswegen tun soll, weil Gott Ninive gnädig sein möchte und tut alles, um diesen Auftrag ja nicht in die Tat umsetzen zu müssen (Jona 4,2).
Der Dienst von Jesus im Neuen Testament drehte sich stark um den Aspekt der Gerechtigkeit. Wie er in der Bergpredigt ausführte, erheben die Regeln des Reiches Gottes einen hohen Anspruch an die Gerechtigkeit und Jesus hob den Hunger nach Gerechtigkeit in besonderer Weise zu Beginn bei den Seligpreisungen hervor (Mt 5,6). Um das Himmelreich zu erlangen, benötigen die Menschen eine bessere Gerechtigkeit, als selbst jene der Schriftgelehrten und Pharisäer (Mt 5,20)! Man soll seine Gerechtigkeit nicht vor den Menschen, sondern vor dem Vater im Himmel ausüben (Mt 6,1) und an einer anderen Stelle sollen wir zunächst nach dem Reicht Gottes und seiner Gerechtigkeit trachten (Mt 6,33). Das Thema Gerechtigkeit spielt im Matthäusevangelium eine erneute Rolle, als Jesus die Reich Gottes Gleichnisse erläutert (Mt 13,17.43.49) und als Jesus anfängt, von der Endzeit zu reden (Mt 23,35; 25,37.46).
Dennoch konzentriert sich Jesus in seinem Wirken auf Taten der Barmherzigkeit. Und dass zum großen Ärger manch einer Elite-Gruppierung seiner Zeit. Viele stoßen sich daran, dass Jesus Gemeinschaft mit Sündern hatte (Mt 9,11). So etwas sollte ein Prophet der Gerechtigkeit nicht tun (Lk 7,39). Doch Jesus weist die Kritik an solchen Dingen immer entschieden zurück. Er erwidert auf die Kritik, dass er mit Sündern und Zöllnern speiste: „Geht aber hin und lernt, was das heißt: ‚Barmherzigkeit will ich und nicht Opfer.‘ Ich bin nicht gekommen, Gerechte zu rufen, sondern Sünder.“ (Mt 9,13).
Lukas berichtet sehr ausführlich über eine Begebenheit, in der auch Jesu Selbstverständnis als Messias besonders deutlich zum Vorschein tritt. In dieser finden wir einen Hinweis darauf, wie Jesus selbst diese Spannung auflöst, dass er als Messias sowohl gnädig wie auch gerecht ist. Jesus besucht seine Heimatstadt Nazareth (Lk 4,16) und erhält die Möglichkeit, zu predigen. Er wählt als Predigttext Jes 61,1-2, wo es heißt:
„Der Geist des Herrn, HERRN, ist auf mir; denn der HERR hat mich gesalbt. Er hat mich gesandt, den Elenden frohe Botschaft zu bringen, zu verbinden, die gebrochenen Herzens sind, Freilassung auszurufen den Gefangenen und Öffnung des Kerkers den Gebundenen, auszurufen das Gnadenjahr des HERRN und den Tag der Rache für unsern Gott, zu trösten alle Trauernden,” (Jes 61,1-2, eigene Hervorhebung).
Jesus eröffnet seinen Zuhörern daraufhin, dass sich „dieses Wort der Schrift erfüllt“ habe. Keiner möchte dieser Offenbarung glauben, weil jeder glaubt, Beweise vorzubringen zu können, die gegen die Messanität Jesu sprechen. Schließlich kannte man seine Verwandten und jeder wusste, dass Jesus ein gewöhnlicher Handwerker war, auch wenn man sich „über die Worte der Gnade wunderte, die aus seinem Munde kamen“ (Lk 4,22).
Wenden wir uns von der Reaktion des Volkes auf das verwendete Zitat Jesu.. Den Teil der Stelle aus Jesaja 61, den ich oben hervorgehoben habe, lässt Jesus aus! Er zitiert alle Elemente der Gnade, die die Erscheinung des Messias mit sich bringt und lässt alle Elemente der Gerechtigkeit aus. Jesus sagt, wenn ich jetzt da bin, da erfüllt sich, dass die Gnade Gottes da ist. Doch was passiert mit dem Tag der Rache, der mit dem Messias ebenfalls Einzug halten soll? Ja dieser ist auch unabänderlich mit Jesus verknüpft und stand, als Jesus das aussprach nur wenige Monate bevor: Der Tag der Rache Gottes auf Golgatha!
[1] Eigene Übersetzung einer Aussage von John Owen: William H. Goold (Hg.). The works of John Owen 2. Edinburgh: T&T Clark, o. J., 91–92.
[2] Tim Cooper. “John Owen, Richard Baxter and the Battle for Calvin in Later-Seventeenth-Century England”. In: The Southern Baptist Journal of Theology 20.4 (2016), 63-78.
[3]Luthers Turmerlebnis und seine Suche nach dem gnädigen Gott sind zu sprichwörtlichen Begebenheiten geworden. Eine kurze Übersicht zu diesen Begebenheiten findet sich hier: https://www.nimm-lies.de/in-deiner-gerechtigkeit-erloese-mich/13639 [letzter Zugriff 08.08.2024].
[4] Nicht immer lief die Suche nach der Rechtfertigung so spektakulär ab. In diesem Artikel gehe ich auf vier Erlebnisse der Rechtfertigung ein: https://www.glaubend.de/vier-erzaehlungen-ueber-die-rechtfertigung/ [letzter Zugriff 08.08.2024].
Schreibe einen Kommentar