Im Jahr 1937 veröffentlichte Dietrich Bonhoeffer sein Werk Nachfolge, in dem er sich mit einem grundlegenden Problem der evangelischen Kirche seiner Zeit auseinandersetzte: dem Verständnis von Gnade und Nachfolge. Nachdem er im ersten Kapitel („Die teure Gnade“) gezeigt hat, dass Gnade und Nachfolge unauflöslich zusammengehören, geht er im zweiten Kapitel „Der Ruf in die Nachfolge“ auf die Frage ein, wie genau man zu einem Nachfolger wird und wie diese Nachfolge aussieht. Dieser Artikel zeichnet die Argumentation Bonhoeffers in diesem zweiten Kapitel nach.
Nachfolge ist Bindung an Christus
In Mk 2,14 begegnen wir der eindrucksvollen Szene, in der Jesus Levi ruft: „Folge mir nach!“ Und dann wird die Unmittelbarkeit von Ruf und Gehorsam bei Levi deutlich: er steht auf und folgte nach. Diese spontane Reaktion von Levi zeigt, dass der Grund für seinen Gehorsam nicht in einer rationalen Abwägung liegt, sondern in der Person von Jesus Christus selbst. Jesus ruft nicht nur als Lehrer oder als bloßes Vorbild, sondern er ruft als Sohn Gottes in die Nachfolge. Sein Ruf bedeutet nicht die Übernahme einer bestimmten Programmatik, eines Ideals oder eines Gesetzes, sondern die Bindung an ihn – an Jesus Christus – allein.
In Lk 9,57-62 gibt es drei Menschen, die die Nachfolge missverstehen. Der erste („Ich will dir folgen, wo du hin gehst!“) will Jesus aus eigener Initiative nachfolgen, doch Nachfolge ist kein menschlicher Entschluss, sondern immer eine Antwort auf den vorher erfolgten Ruf Christi. Der zweite („Erlaube mir, dass ich meinen Vater begrabe!“) lässt sich vom Gesetz binden und verweigert so die unmittelbare Bindung an Christus. Den dritten („Erlaube mir zuvor, dass ich Abschied nehme!“) binden seine eigenen Bedingungen und lösen ihn damit von Jesus Christus.
Der erste Schritt des Gehorsams
Mit zwei Sätzen bestimmt Bonhoeffer das Verhältnis von Glauben und Gehorsam im Hinblick auf Nachfolge: 1. Nur der Glaubende ist gehorsam. 2. Nur der Gehorsame glaubt. Bonhoeffer geht es vor allem um den zweiten Satz, da es durch seine Negierung oder Relativierung sonst zur billigen Gnade kommt. Damit Glauben entstehen kann, ist also ein „erster Schritt des Gehorsams“ notwendig. Dieser „erste Schritt“ ist einerseits ein äußerliches Werk, das jeder Mensch in Freiheit tun kann, hat aber – andererseits – als äußerliches Gesetz nicht die Kraft, zu Christus zu führen. Dieser Gehorsam kann vielleicht einen neuen Lebensstil im Menschen schaffen, aber kein neues Leben schenken. Letzteres tut alleine der von Gott geschenkt Glauben. Und trotzdem ist dieser erste Schritt des Glaubens notwendig, denn „der Ungehorsame kann nicht glauben.“
Auf die Seelsorge bezogen bedeutet es für Bonhoeffer konkret: Wenn ein Mensch über mangelnden Glauben klagt, fehlt ihm der Gehorsam, denn: Der Gehorsame glaubt, der Ungehorsame kann nicht glauben. Der Unglaube dieses Menschen nährt sich an der billigen Gnade – und damit nimmt Bonhoeffer Bezug auf sein vorheriges Kapitel –, weil er im Ungehorsam beharren will. Dieser Mensch braucht jemanden, der ihm seine Sünde des Ungehorsams vorhält und ihn zum Gehorsam auffordert.
Der reiche Jüngling und der Schriftgelehrte
Anhand von zwei Texten aus dem Neuen Testament macht Bonhoeffer deutlich, dass christliche Nachfolge einfältiger Gehorsam bedeutet und nicht kritisches Hinterfragen. Der reiche Jüngling in Mt 19,16-22 fragt, wie er das ewige Leben erlangen könne und Jesus ruft ihn zum sturen Gehorsam auf. Der Jüngling aber sucht seine Ausflucht im „ethischen Konflikt“. Mit diesem Begriff meint Bonhoeffer die eigenmächtige Auslegung und Deutung der Gebote Gottes. Als Jesus den Jüngling schließlich in die Nachfolge und damit in die Bindung an den Sohn Gottes selbst ruft, lehnt dieser ab.
Ein paralleles Beispiel finden wir im Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk 10,25-29). Auch hier flieht der Fragende, ein Schriftgelehrter, in den ethischen Konflikt („Wer ist denn mein Nächster?“), statt sich einfältig dem Gebot Gottes zu unterstellen. Bonhoeffer kommentiert: „Was Gehorsam ist, lerne ich allein im Gehorchen, nicht durch Fragen. Erst im Gehorsam erkenne ich die Wahrheit.“
Fazit
Bonhoeffer macht deutlich, dass man nur durch den Ruf Jesu Christi zu seinem Nachfolger werden kann. Jesus Christus ruft Menschen zu sich und bindet sie an sich. Der Ruf wiederum fordert unmittelbaren Gehorsam von dem, an den er erging. Zwar kann nur der Glaubende gehorsam sein, aber glauben kann andererseits auch nur der Gehorsame. Nachfolge ist letztlich ein Geschenk der Gnade – und zugleich ein Gebot, das unser ganzes Leben fordert.
Bonhoeffer macht sich in dem Buch „Nachfolge“ für ein Christenleben stark, das sich im Gehorsam an Christus – und an ihn allein – bindet. Das Buch lohnt sich für jeden, der nicht nur einen theologischen Klassiker des 20. Jahrhunderts lesen will, sondern auch ein Buch, dass den eigenen Glauben herausfordert.