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Sinuhe und Mose

Einleitung

Die Geschichte von Sinuhe gehört zu den absoluten Klassikern der altägyptischen Literatur. Sie war nicht nur für die Ägypter selbst prägend, sondern hat auch darüber hinaus in anderen Kulturen große Bekanntheit genossen.1 Zentrale Themen sind u.a. Heimat, Flucht, Fremdheit und die ägyptische Identität. Interessanterweise beschreibt das Alte Testament eine Geschichte von Mose, die erstaunlich viele Gemeinsamkeiten mit der Geschichte von Sinuhe aufweist (Ex 2). Ich argumentiere in diesem Artikel dafür, dass die Sinuhe-Geschichte vom Autor in Exodus 2 polemisch karikiert wird. Gott hat das Leben von Mose so gelenkt, dass Exodus 2 ganz im Zeichen polemischer Theologie steht, die dadurch gekennzeichnet ist, dass die Bibel altorientalische Vorstellungen aufgreift und die Überlegenheit Jahwes demonstriert.

Die Geschichte von Sinuhe

Datierung und Gattung:

Die Geschichte von Sinuhe wird auf das 19. Jh. v.Chr. datiert, in die 12. Dynastie des Mittleren Reiches. Weil die Handlung der Geschichte in der Regierung von Sesostris I. endet, der bis ca. 1910 v.Chr. regierte, ist der frühestmögliche Entstehungszeitpunkt 1910 v.Chr. (Terminus post quem). Die älteste Handschrift (Papyrus Berlin 3022, 1800-1750 v.Chr.) gibt den spätestmöglichen Entstehungszeitpunkt an (Terminus ante quem).2 Man geht in der Forschung davon aus, dass die Sinuhegeschichte unmittelbar nach dem Regierungsende von Sesostris I. um 1910 v.Chr. geschrieben wurde. Die Geschichte von Sinuhe wird als „Idealbiografie“ bezeichnet,3 in der historische Elemente mit Fiktion verbunden werden.

Beginn des Papyrus Berlin 3022.

Inhalt:4

Sinuhe war als Beamter am Hof des Pharaos angestellt. Als er von einem Komplott gegen den Pharao erfährt, bekommt er es mit der Angst zu tun, wahrscheinlich weil er befürchtet, dass er als Mitwissender oder Mittäter beschuldigt werden könnte (die genauen Gründe werden in der Geschichte nicht genannt). Sinuhe flieht Hals über Kopf aus dem Land und versteckt sich in einem Gebüsch vor den ägyptischen Wachmännern. Anschließend überwindet er die Verteidigungsanlagen des Pharaos („Mauern des Herrschers“) und flieht weiter in die Wüste. Dort verdurstet er fast, wird dann aber von Beduinen gerettet. Anschließend geht er über Byblos nach Qedem, wo er die Tochter eines Häuptlings heiratet und reich wird. Es kommt dort auch zu einem Duell gegen den „Starken von Retjenu“, den Sinuhe besiegen kann, sodass er noch mehr Reichtum anhäuft. Allerdings sehnt er sich danach, wieder in seine Heimat Ägypten zurückzukehren und betet zu den Göttern. “Sicher wirst du geben, dass ich den Ort sehe, an dem mein Herz weilt! Was ist größer, als dass mein Leichnam mit dem Land vereinigt wird, in dem ich geboren bin?”5 Der Pharao lädt ihn tatsächlich ein, wieder zurückzukommen, was er auch sofort macht. Der König heißt ihn willkommen, ihm wird alles vergeben und Sinuhe wird wieder am Königshof aufgenommen.

Struktur:

J. Robin King hat die Geschichte von Sinuhe in 10 Sequenzen eingeteilt. Für seine Strukturierung hat er noch vier weitere Biografien aus dem Alten Vorderen Orient herangezogen, nämlich die Geschichte von König Idrimi, die Apologie Hattusilis III., der Kampf Asarhaddons um den Thron und Nabonidus´ Gott. Die zehn narrativen Schritte von King sehen wie folgt aus:6

  1. Ausgangssituation
  2. Bedrohung
  3. Bedrohung verwirklicht
  4. Exil
  5. Erfolg im Exil
  6. Konflikt im Exil
  7. Sieg im Exil
  8. Überwindung der Bedrohung
  9. Rückkehr und Versöhnung
  10. Epilog

Das Fazit von J. Robin King ist, dass bestimmte narrative Muster hinter diesen Geschichten stecken, wonach sich der Held zuerst in einem vorteilhaften Umfeld befindet, es dann zur Bedrohung kommt, der Held ins Exil flieht, ihm dort geholfen wird und er schließlich mit göttlicher Unterstützung zurückkehrt, sodass er mit seiner Ursprungsgemeinschaft wieder ein harmonisches Leben führen kann.7 Diese narrativen Muster finden sich in der Metastruktur vieler dieser altorientalischen Biografien wieder.

Moses Flucht und Rückkehr

In Exodus 2-4 wird die Geschichte von Mose erzählt. Er wächst als Prinz am Hof des Pharao auf, tötet einen ägyptischen Aufseher und flieht anschließend nach Midian, wo er nach einem Konflikt mit Hirten zu einem Mann namens Jetro kommt und eine seiner Töchter heiratet. Nach 40 Jahren erscheint ihm Jahwe, der ihn nach Ägypten ruft. Nach anfänglichem Unwillen geht Mose nach Ägypten, vollbringt dort die 10 Plagen und führt das Volk Israel aus der Knechtschaft heraus.

Vergleich zwischen Sinuhe und Mose

Es gibt zahlreiche Übereinstimmungen zwischen den beiden Geschichten von Sinuhe und Mose. Neben den anfänglichen Gemeinsamkeiten fallen zum Ende beider Geschichten vor allem auch die Unterschiede auf. Bei der Gegenüberstellung beziehe ich mich auf die zehn narrativen Schritte, die Robin King ausgemacht hat (s.o.).8

Narrative SchritteMose-GeschichteSinuhe-Geschichte
1. Ausgangssituation1. Mose lebt am ägyptischen Königshof unter der Obhut der Tochter des Pharaos (Ex 2,10).1. Sinuhe bekleidet einen Posten am Hof des Pharao.
2. Bedrohung2. Mose tötet einen Ägypter, es droht die Enttarnung (Ex 2,11-14).2. Es kommt zu einem Mordkomplott gegen den Pharao.
3. Bedrohung verwirklicht3. Der Pharao trachtet Mose nach dem Leben (Ex 2,15a).3. Sinuhe befürchtet, dass er mitbeschuldigt wird.
4. Exil4. Mose flieht in die Wüste (Ex 2,15b).4. Sinuhe flieht in die Wüste.
5. Erfolg im Exil95. Mose heiratet Zippora, bekommt einen Sohn und lebt erfolgreich in Midian (Ex 2,21-22).5. Sinuhe heiratet, bekommt Kinder und wird reich.
6. Konflikt im Exil6. Mose gerät in einen Konflikt mit Hirten an einem Brunnen in Midian (Ex 2,16-17).6. Der „Starke von Retjenu“ fordert Sinuhe zum Kampf heraus.
7. Sieg im Exil7. Mose rettet die Töchter Jetros vor den Hirten und gibt ihrer Herde Wasser (Ex 2,17).7. Sinuhe besiegt den Starken von Retjenu.

Ab diesem Punkt allerdings überwiegen die Unterschiede zwischen den beiden Geschichten:

Narrative SchritteMose-GeschichteSinuhe-Geschichte
8. Überwindung der Bedrohung8. Als Mose nach Ägypten zurückkehrt, folgt die Niederlage des Pharaos (Ex 4-14).8. Es gibt keine Bedrohung. Der Pharao lädt ihn ein, nach Ägypten zurückzukehren.
9. Rückkehr und Versöhnung9. Mose kehrt nach Ägypten zurück, es kommt zum Kampf gegen den Pharao (Ex 4,18-31). 8. Sinuhe kehrt nach Ägypten zurück und es kommt zur Versöhnung mit dem Pharao.
10. Epilog10. Mose führt Israel aus Ägypten in das verheißene Land (Ex 15ff). 10. Sinuhe wird wieder in sein Amt am Hof des Pharaos eingesetzt.

Fazit:

Die Schlusspassagen in der Geschichte von Sinuhe und Mose sind einander völlig entgegengesetzt. Während Sinuhe sich nach Ägypten sehnt, will Mose unter keinen Umständen zurückkehren. Während Ägypten für Sinuhe die Heimat und der Ort des Glücks ist, ist Ägypten für Mose ein Ort der Sklaverei und der Angst. Sinuhe ist ein Sohn Ägyptens, Mose ist ein Sohn Jahwes.10 Sinuhe kehrt nach Ägypten zurück, um in Harmonie und Glück zu leben, Mose kehrt zurück, um das Gericht am Pharao und den ägyptischen Göttern zu vollziehen.

Es wird deutlich, dass sich die Geschichte über Moses‘ Flucht aus Ägypten und seine Rückkehr dorthin in polemischer Weise auf die Geschichte von Sinuhe bezieht. Exodus 2 gibt Sinuhe die volle Breitseite an Polemik mit und macht so einen eigenen wichtigen theologischen Punkt, nämlich, dass Ägypten kein erstrebenswertes Land ist, sondern dass dort Angst und Unfreiheit regieren. Das ist der Grund dafür, dass Jahwe sein Volk aus der Unterdrückung rettet. Exodus 2 nimmt Bezug auf die ägyptische Erzählung von Sinuhe und ist damit ein hervorragendes Beispiel für polemische Theologie im Alten Testament.


Fußnoten:

  1. Blumental, Elke: Die Erzählung des Sinuhe. In: Otto Kaiser u.a. (Hg.): Texte aus der Umwelt des Alten Testaments. (TUAT), Band III, 5: Mythen und Epen, Gütersloh 1995, S.885. ↩︎
  2. Ebd. S.884. ↩︎
  3. Moers, Gerald: Sinuhe/Sinuhe-Erzählung. In: Michaela Baucks, Klaus Koenne, Stefan Alkier (Hg.): Das wissenschaftliche Bibellexikon im Internet (WiBiLex), Stuttgart 2008. ↩︎
  4. Die Geschichte ist zu lesen in: Burkhard, Günter/Heinz J. Thiessen: Einführung in die Altägyptische Literaturgeschichte I. Altes und Mittleres Reich, Berlin 2007, S.117-122. ↩︎
  5. Ebd. S.120f. ↩︎
  6. King, J. Robin: The Joseph Story and Divine Politics: A Comparative Study of a Biographic Formula from the Ancient Near East, in: Journal of Biblical Literature 106 (1987), S. 577-594. ↩︎
  7. Ebd. S.584-585. ↩︎
  8. Vgl. Currid, John: Against the gods. The Polemical Theology in the Old Testament, Wheaton 2013, S.93-94. ↩︎
  9. Die narrativen Schritte passen bei Punkt 5 nicht zur strengen chronologischen Erzählung in Ex 2. Der Rest stimmt miteinander überein. ↩︎
  10. Vgl. ebd. 95. ↩︎

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